Cannes 2018: Die ersten Tage (u.a. mit Everybody Knows, Wildlife & Sorry Angel)

Lange Schlangen, streikende Züge und enge Straßen voller Menschen: Cannes kann schon hässlich sein. Und doch, wenn man es das erste mal zum prestigeträchtigsten Filmfestival der Welt geschafft hat, ist alles irgendwie halb so schlimm. Dann macht selbst Anstehen ein wenig Spaß, da man derweil z.B. die unzähligen Menschen in fescher Abendgarderobe beobachten kann, die mit Pappschildern um Einladungen für die großen Gala-Premieren betteln. Klasse ist in Cannes das Stichwort. Mir geht es hier nur bedingt besser, denn als Neuling bin ich Träger einer gelben Akkreditierung (#Yellowbadger). Die Presse-Akkreditierungen teilen sich in fünf Klassen. Ganz oben stehen die Weißen (eine bewusste Farbwahl?). Dann kommen die Pinken mit gelbem Punkt, danach die normalen Pinken, die Blauen und zu guter Letzt eben die Gelben, das Fußvolk. Welche Farbe man erhält, erfährt man erst beim Entgegennehmen des Badges am Presseschalter. Meine anfängliche Enttäuschung war jedenfalls nicht zu leugnen.

So musste ich mir am Dienstag Abend gleich beweisen, dass ich es selbst mit einem gelben Badge in die parallele Pressevorführung zur Eröffnungsveranstaltung schaffe. Zum Glück stand ich ganz vorne in der gelben Schlange, musste dann aber auch lange mit ansehen, wie alle anderen Kolleg*innen der oberen Farbklassen nacheinander vor mir reingelassen wurden, was sich ungewollt zu einem gar zähneknirschenden Thriller entpuppte. Welcher folgende Film sollte schon imstande sein, einen solch hohen Spannungsgrad überbieten zu können? Die fast komplett auf französisch stattfindende Eröffnungszeremonie jedenfalls nicht und Everybody Knows, der große Film des Abends, leider genauso wenig.

Der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ist zwar ein Cannes-Liebling. Der Durchbruch gelang ihm aber mit dem Berlinale-Gewinner Nader und Simin. Seitdem dreht er abwechselnd in Europa und im Iran. Und wie der Originaltitel Todos Lo Saben vermuten lässt, ist nun Spanien an der Reihe. Dort hat sich in einer Kleinstadt die Großfamilie um Laura (Penélope Cruz) versammelt, um die Hochzeit ihrer Schwester zu feiern. Lauras Mann Alejandro (Ricardo Darin) ist in Argentinien geblieben. Ihre Teenager-Tochter Irene (Carla Campra) und ihr noch kleiner Sohn sind dafür mitgekommen. Als während der großen Feierlichkeit die Tochter entführt wird, nimmt das Melodrama seinen Lauf. Jemand aus der Familie muss ein Komplize der Kidnapper sein. Nur wer? Wer weiß was? Und welche dunklen Familiengeheimnisse werden noch zutage gefördert? Farhadi ist hier natürlich ganz in seinem Metier. Familiendynamiken, beschädigte Beziehungen, die Last der Vergangenheit und des Unausgesprochenen, nur jetzt auf spanisch und mit Javier Bardem und Penélope Cruz prominent besetzt. Allerdings lässt sich auch die frappierende Formelhaftigkeit nicht abstreiten. Die erste Hälfte des Films wirkt bereits wie die Hochglanz-Version einer spanischen Telenovela. Die Figuren werden mit breitestem Pinselstrich eingeführt und letztendlich schuldet irgendwer irgendwem Land, Hof und Kinder. Zumindest, während Cruz den Großteil des Films heulend im Bett verbringen muss, darf Bardem in der zweiten Hälfte glänzen. Sein Drama würde mich selbst zum Einschalten einer weiteren Folge dieser Farhadi-Soap bewegen.

Um eine komplizierte Familie geht es auch in Birds of Passage von Ciro Guerra und Cristina Gallego. Der Film eröffnet die Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs, die dieses Jahr ihr 50. Jubiläum feiert. Guerra und Gallego bewegten sich bereits mit Der Schamane und die Schlange im indigenen Milieu Südamerikas. Birds of Passage ist nun im Norden Kolumbiens angesiedelt und erzählt eine Episode aus den historischen Anfängen des lokalen Drogenhandels als fatalistische Tragödie eines indigenen Wayuu-Klans in fünf Kapiteln. In den 60ern beginnend, steigt der Alkohol-Schmuggler Rapayet (José Acosta) in den Mariuana-Handel ein, um die Mitgift für seine Braut Zaida (Natalia Reyes) bezahlen zu können. Am Ende dieser wahren Begebenheit steht die beinah völlige Auslöschung des Klans und dazwischen ein ungewöhnlich mystisch gestalteter Drogen-Thriller der sich der genreüblichen Glorifizierung von Mord und Reichtum bravurös entzieht. Schade nur, dass es dieser Film nicht in den Wettbewerb geschafft hat.

Eine Überraschung ist auch der kenianische Beitrag in der Nebensektion Un Certain Regard. Rafiki von Wanuri Kahui wurde bereits in seinem Heimatland verboten. Der Grund liegt leider auf der Hand. In ihrem Film erzählt Kahui von zwei Teenagerinnen kurz vor Schulabschluss, die sich ineinander verlieben. Kena (Samantha Mugatsia) hängt am liebsten mit den Jungs ab. Die Mutter, schwer gläubige Lehrerin, und der Vater, Kioskbesitzer und angehender Politiker, leben getrennt. Sein größter Wahlgegner ist auch zufällig der Vater der auffällig bunt gestylten Ziki (Sheila Munyiva), die nicht wie jede durchschnittliche Kenianerin sein will. Ihre Liaison mit Kena erlaubt es ihr diesen Traum auszuleben, zumindest eine Zeit lang. Trotz der unausweichlich tragischen Geschichte, beginnt Rafiki wie eine Party. Der Vorspann knallt bereits ordentlich. Das nicht nur für den afrikanischen, sondern globalen Queer-Film Innovative liegt allerdings in Kahuis Versuch, das Liebesglück der beiden Frauen nicht mit didaktischer Tragik aufzuwiegen. Zwar zeigt Rafiki mit aller Konsequenz die Formen der Gewalt, die dem lesbischen Paar entgegen schlägt, verschwendet die Aussicht auf ein Happy-End aber nicht als bloßes Wegzoll zur Heten-Katharsis. Die Utopie darf filmisch im Gedachten weiterleben.

Dystopisch geht es dagegen in Sergei Loznitsas Satire (?) Donbass zu. Wie der Titel schon vermuten lässt, spielt der Film in der seit 2014 immer umkämpften Region an der ukrainisch-russischen Grenze. Der Film nutzt den realen Konflikt aber nicht als Gegenstand einer politischen Analyse, sondern als Hintergrund mehrerer langer und kurzer Vignetten, die lose über wenige Figuren miteinander verbunden sind. In diesen fast für sich allein stehenden, oft ungeschnittenen und mit vielen Darstellern ausgestatteten Szenen verdichtet Loznitsa den Verlust von Menschlichkeit und Mitgefühl im berauschenden Nebel des Krieges und der (Medien-)Propaganda. Schauspieler*innen spielen traumatisierte Zivilist*innen für Fernsehinterviews. Ein deutscher Journalist sucht bei einer Truppe Soldaten vergeblich nach einem Verantwortlichen. In einer zentralen und überaus unerträglichen Szene wird einer der sogenannten ukrainischen Faschisten an einen Laternenpfahl gebunden und schrittweise von der Zivilbevölkerung misshandelt. Wie zuletzt mit Die Sanfte, ist dem ukrainischen Regisseur ein garstiger Reigen gelungen.

Gesitteter, wenn auch etwas zu gesittet, ist Paul Danos Regiedebüt Wildlife geraten. Darin erlebt der 14 jährige Joe (Ed Oxenbould), wie die Ehe seiner Eltern Anfang der 60er auseinander bricht. Dano hat sich keinen leichten Stoff ausgesucht, denn sowohl Montana als auch die amerikanischen Suburbs dieser Zeit wurden filmisch bereits reichlich verarbeitet. So tritt der Film unweigerlich in die Fußstapfen von Douglas Sirk, Todd Haynes und auch Matthew Weiner. Etwas neues kann Dano diesem Sujet daher auch nicht hinzufügen, aber zumindest schenkt er uns eine unvergleichlich aufspielende Carey Mulligan.

Zum Abschluss meiner ersten Cannes-Auslese nochmal ein Wettbewerbsfilm, obwohl die großen Highlights in der Hauptsektion bisher leider noch auf sich warten lassen. Da möchte sich der englische Titel des neuen Films von Christophe Honoré gleich mit für entschuldigen: Sorry Angel oder auf französisch Plaire, Aimer Et Courir Vite spielt Anfang der 90er im sommerlichen Paris. Jacques (Pierre Deladonchamps), 40 Jahre, ist Schriftsteller, an Aids erkrankt und glaubt seine besten Zeiten schon hinter sich zu haben. Er trifft auf den jungen Arthur (Vincent Lacoste), zielloser Student mit Fassbinder-Gedächtnis-Lederjacke und überaus promiskuitiv. Beide verlieben sich, irgendwie, nähern sich, entfernen sich. Allerdings geht es noch um sehr viel mehr. Honoré, bekannt als Speerspitze queerer Eleganz im französischen Kino, fährt ein riesiges Figurenensemble auf, die alle erwarten in ein Verhältnis zueinander gesetzt zu werden, was wiederum auch die recht happige Laufzeit von über zwei Stunden erklärt. Kurz fühlt sich Sorry Angel jedenfalls nicht an. Langweilig aber ebenso wenig. Es ist jedes mal ein Genuss Honorés Bewegungsinszenierung zu erleben. Zwar wird in diesem Film nicht gesungen, wie noch in Les Chansons D’Amour, aber jede Kamerabewegung, jeder Schnitt und jede Regung von Hand und Fuß ist eine beinah penible Musikalität eingeschrieben. Wenn Arthur nachts auf Männerfang geht, dann erinnert das schon gar an ein Ballett. Ohnehin muss man eine Toleranz für Honorés Manierismen und das eine oder andere Klischee mitbringen. Die langen Dialoge klingen oft allzu geschrieben und die kühle Bildgestaltung hält auch jede Form von erwünschtem Pathos fern, was aber ebenfalls eine Stärke des Films ist. Denn zum einen gelingt es ihm, uns an diesen Ort, in diese Zeit zu transportieren und zum anderen ist er trotz seiner Tragik kein bloßes Leidensdrama, sondern gleichsam komisch, melancholisch und natürlich voller schöner Männer.

Das war nun mein erster Rundumschlag von der Croisette. Zur Halbzeit soll es den nächsten Bericht geben, u.a. mit Cold War von Ida-Regisseur Pawel Pawlikowski, dem Glücksspiel-Drama Joueurs mit Nymphomaniac-Star Stacy Martin und dem blutigen Nicolas-Cage-Film Mandy.

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