Cannes Filmfestival 2017 – Rückblick auf Tag 1

Seit gestern ist erneut das alljährlich stattfindende, weltweit prestigeträchtigste Filmfestival in Cannes in vollem Gange und feiert hierbei sogar seine mittlerweile 70. Ausgabe. Ich habe die große Ehre, dieses Jahr für unsere kleine, aber feine Filmseite direkt von der Croisette zu berichten, wo sich, wie gewohnt, die Crème de la Crème des internationalen Kinos feiern lässt.

Nach einer holprigen Anreise – von manchen Billigairlines sollte man sich besser fernhalten – stürzte ich mich also direkt in den von mir bereits heiß erwarteten Festivaltrubel. Doch entgegen aller Erwartungen und Erfahrungen bei anderen Festivals, ist die Organisation in Cannes, abgesehen von kleineren Startschwierigkeiten, die sich bei jedem ersten Festivalbesuch ergeben, in allen Belangen vorbildlich. Und auch das Wetter könnte für diese Jahreszeit glücklicherweise mit knapp 24 Grad und Sonnenschein kaum besser sein. Die beste Ausgangslage also, um an meinem ersten Festivaltag gleich mehrere begehrte Filme auf der großen Leinwand zu bestaunen.

Ismaël’s Ghosts

Den Anfang machte hierbei der diesjährige Eröffnungsfilm Les fantômes d’Ismaël (Ismaël’s Ghosts) von Regisseur Arnaud Desplechin, der für sein neustes Drama die von Cannes nicht mehr Wegzudenkenden Marion Cotillard, Charlotte Gainsbourg, Mathieu Amalric und Louis Garrel vor der Kamera versammeln konnte. Gemessen an dem Cast, wird der Film zwar den hohen Erwartungen nicht gerecht, doch alles in allem ist Arnaud Desplechin (zuletzt Trois souvenirs de ma jeunesse) erneut ein größtenteils spannendes Drama gelungen, in dem Mathieu Amalric mal wieder sein volles schauspielerisches Talent bei der Verkörperung eines Filmemachers, vor dessen Tür plötzlich die vor Jahren verschwundene und von ihm für Tod erklärte Frau steht, ausspielt. Desplechin spielt gekonnt mit der Verarbeitung des Verlustes einer von uns innig geliebten Person, schaffte es hierbei aber nicht immer überzeugend seinen Film-im-Film-Subplot einzubauen, der der Hauptstory immer wieder den großen emotionalen Wurf verwehrt. Doch der Film ist natürlich allein aufgrund der Szenen, die sich Cotillard, Gainsbourg und Amalric teilen, ein schauspielerischer Hochgenuss. Sehenswert!

Loveless

Ebenfalls nicht begeisternd, aber eine Sichtung wert, ist der französisch-russische Wettbewerbsbeitrag Nelyubov (Loveless), der einhält, was der Titel verspricht, und der mit der unterkühlten, von wenig Liebe geprägten russischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts abrechnet. Wirklich subtil geht allerdings anders. Nelyubov ist laut, düster und voller Hass und Hoffnungslosigkeit. Ein ambivalenterer Ton hätte der Erzählung, in der ein Sohn nach einem elterlichen Streit spurlos verschwindet, sicherlich besser zu Gesicht gestanden. Doch der talentierte Regisseur Andrey Zvyagintsev, der zuletzt 2014 mit Leviathan auf sich aufmerksam machte, hat neben den allzu offensichtlichen Oberflächlichkeiten im Drehbuch durchaus auch einige starke Momente, zu bieten, wenn er auf grausam-emotionale Weise dem elterlichen Versagen Ausdruck verleiht oder zwischenzeitig auch andere interessante Themen anspricht, er also beispielsweise eine grandiose Szene der absurden russischen Unternehmenskultur widmet.

Jupiter’s Moon

Mehr als absurd war übrigens auch mein dritter Film am heutigen Tag, das ungarische Flüchtlings-Fantasy-Drama Jupiter’s Moon, bei dem ich mir immer noch nicht sicher bin, was Regisseur Kornél Mundrucó eigentlich mitteilen möchte. Vielleicht soll der Zuschauer aber auch einfach nur, wie schon bei White God, an erster Stelle Mundruczós famose Erzählweise auf sich wirken lassen, denn die Regie ist sicherlich schon jetzt eine der Einfallsreichsten und Ungewöhnlichsten des kompletten Festivals. Allein, wie sich die Kamera durch heruntergekommene Flüchtlingscamps bewegt, ist pures Gänsehautkino. Obendrein gehört schon einiges an Mut dazu, wenn man, so wie es Mundruczó hier anstellt, einen Flüchtling zum Engel stilisiert und dabei die kaltblütige, korrupte Einwanderungsarbeit Ungarns anprangert. Jupiter’s Moon ist, obwohl das Drehbuch nicht immer verständlich ist, ein wichtiger, diskussionswürdiger Film zum Thema Immigrationspolitik.

Wonderstruck

Neben diesen drei, alle auf ihre Art sehenswerten Filmen erwartete mich das erste wirkliche Highlight erst bei meinem letzten Kinogang des Tages. Todd Haynes Wonderstruck ist ein audio-visuelles, bezauberndes Wunderwerk, welches in den nächsten Tagen und Monaten sicherlich noch viele Lobeshymnen erhalten wird. Es ist kaum in Worte zu fassen, wie Haynes parallel die Jahre 1927 und 1977 auf der großen Leinwand aufleben und uns in den beiden Jahrzehnten an der Suche zweier Kinder nach ihrem Glück teilhaben lässt. Wonderstruck hätte eine ziemlich kitschige Angelegenheit werden können, doch Haynes versteht es ohne unnötig simple Emotionen auf der Klaviatur der Gefühle zu spielen, vor allem aufgrund der ganz und gar traumhaften musikalischen Begleitung aus der Feder von Carter Burwell (gebt dem Mann endlich seinen lang verdienten Oscar!), die hier eine zentrale Rolle einnimmt. Eines ist am Ende sicher: Es werden Tränen kullern, denn in diesem, teils als Stummfilm angelegten, Coming-of-Age-Märchen passt fast alles.

Insgesamt hatte ich heute einen in allen Belangen lohnenswerten Einstieg in das 70. Cannes Filmfestival. Freut euch also schon einmal auf meine kommenden Berichte, denn das Programm hat noch einige heiße Kandidaten zu bieten, darunter beispielsweise Bong Joon Hos Okja, Noah Baumbachs The Meyerowitz Stories, Yorgos Lanthimos The Killing of a Sacred Deer, Michael Hanekes Happy End, und einige mehr.

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