Kritik: The Killing of a Sacred Deer (US 2017)

Es ist nun offiziell, der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos (Dogtooth) und der irische Schauspieler Colin Farrell (Brügge sehen… und sterben?) sind das neue Dreamteam des abseitigen Independentkinos. Nach der dystopischen, tragikomischen Romanze The Lobster, die mich letzten Jahr vollkommen unerwartet in ihren Bann gezogen hat und es sogar in meine Top 3 des Jahres schaffte, schieben die beiden nun auf dem diesjährigen Cannes Filmfestival eine angsteinflößende, bitterböse, vielseitig interpretierbare Gesellschaftstragödie hinterher. Die Buhrufe des Publikums beim Einsetzen des Abspanns überraschten mich also nicht.

Lanthimos neuer Film The Killing of a Sacred Deer ist nämlich ein durch und durch verstörendes Psychohorrorrätsel über gesellschaftliche, insbesondere familiäre Abgründe geworden. Farrell, der unter Lanthimos Führung nach The Lobster erneut zu schauspielerischer Höchstform aufläuft, spielt dieses Mal einen Kardiochirurgen, dem bei einer Operation ein Fehler unter Alkoholeinfluß unterlaufen sein soll. Dieser von ihm begangene, moralische Fauxpas soll zum Ableben des operierten Patienten geführt haben. Dies behauptet zumindest der Sohn des verstorbenen Patienten, der nun wiederum prophezeit, dass alle Familienmitglieder des Chirurgen nach und nach ebenfalls der Tod ereilen wird. Angefangen mit dem Sohn, gefolgt von der Tochter, und zu guter Letzt seine Ehefrau (Nicole Kidman).

Und so setzt der Film mit einer der schauerhaftesten Szenen ein, die das Kino der jüngeren Vergangenheit zu bieten hatte, wenn die Kamera direkt auf ein offenes, pumpendes Herz während einer, wahrscheinlich der genannten schichsalhaften Operation gerichtet ist. Diese Eröffnungsszene gibt, untermalt von klassischer Musik, direkt den wenig hoffnungsvollen Ton des Films vor, denn der radikale Regisseur lässt es sich bis zum Ende nicht nehmen, immer wieder offen drastisch schmerzhafte, mehrdeutige Szenen abzufilmen.

Dennoch ist The Killing of a Sacred Deer im Großen und Ganzen ein gemächlich, in tristen Tönen erzählter, subtiler Psychothriller geworden, der vor allem an den Verstand des Zuschauers appelliert, wenn er menschliche Verhaltensweisen hinterfragt, beispielsweise als weder der erfahrene Chirurg, noch andere Spezialisten eine Erklärung dafür finden, warum die beiden Kinder plötzlich nicht mehr laufen können. The Killing of a Sacred Deer ist aber auch ein Psychohorrorfilm mit den Ausmaßen einer griechen Tragödie, denn, ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten, baut der Grieche schicksalhafte Entscheidungen von heilos-furchtbarer Tragweite in sein modernes Familiendrama mit ein.

Und es ist gleichsam begeisternd, wie auch schockierend mitanzusehen, wie uns Lanthimos aus unserer scheinbar so perfekten Familien- und Gesellschaftsidylle reist, getaucht in die eiskalt-melancholischen Bilder von Kameramann Thimios Bakatakis. Obwohl der von Colin Farrell gespielte Chirurg alles besitzt, was man als das “perfekte Leben” bezeichnen würde – ein großes Haus, noble Einrichtungen, eine wunderschöne Frau und zwei kluge Kinder – am Ende zerbröckelt seine scheinbar perfekte Existenz innerhalb von nur kürzester Zeit. In Wirklichkeit vegetiert der Chirurg jedoch schon länger nur noch vor sich dahin, weshalb das, was nun in sein Leben kommt, nur die logische Konsequenz zu sein scheint.

The Killing of a Sacred Deer ist vielseitig zu lesen: Als metaphorische, teils surreale Rachegeschichte, als Abgesang auf den distanziert-emotionslosen Lebensstil der Upper-Class, als Drama über moralische Grenzen, aber auch als Homeinvasionthriller der mal anderen Art. Es gibt aber auch genügend zu lachen, in diesem unterkühlt-düsteren cineastischen Wunder. Beispielsweise, wenn die Frau des Chirurgen ihm beim Sex komplett desinteressiert ihren Körper präsentiert. Aber auch die mindestens genauso leidenschaftslosen Dialoge des Ehepaares sind so lustig wie traurig.

Irgendwann muss der Zuschauer auch an große Regisseure wie Stanley Kubrick denken, im vollkommen positiven Sinne versteht sich, denn mit The Killing of a Sacred Deer hat Yorgos Lanthimos einen opernhaften Geniestreich nach Cannes mitgebracht, dessen Vorbilder sich natürlich nicht leugnen lassen. Dennoch kreierte Lanthimos mal wieder ein vollkommen eigenes Universum. Die goldene Palme wäre deshalb verdient, wie auch der Preis für den besten Hauptdarsteller, doch seien wir ehrlich, ist es unwahrscheinlich, dass eine dermaßen zynisch-kühle Abrechnung mit den Schattenseiten des Menschseins und den Herausforderungen, das Karriere- und Familienleben in Einklang zu bringen, mit einem Preis ausgezeichnet werden wird.

Fazit: Yorgos Lanthimos präsentiert uns nach The Lobster ein weiteres Mal ein brillantes, diskutables, kraftvolles wie auch forderndes Filmerlebnis, welches sich tief im Kopf des Zuschauers festsetzt und sein Opfer so bald nicht mehr loslassen wird. Nun bleibt also nur noch zu hoffen, dass The Killing of a Sacred Deer in Deutschland auch auf großer Leinwand gezeigt und nicht, wie The Lobster, erneut nur auf DVD veröffentlicht werden wird.

Gesehen im Rahmen des 70. Cannes International Film Festivals 2017

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