Kritik: Julieta (ES 2016)

© El Deseo

„In diesen Momenten, den schlimmsten in meinem ganzen Leben, denke ich an Dich.“

Nachdem sich Pedro Almodóvar (Frauen am Rande des Nervenzusammenbrauchs) in Die Haut, in der ich wohne äußerst gekonnt auf traditionelle Genre-Mechanismen rekurrierte und in Fliegende Liebe die homosexuellen Wallungen im Inneren eines Passagierfliegers zelebrierte, wurde es nach diesen filmischen Experimenten für den spanischen Exzentriker mit Julieta wohl Zeit, zurück zu den Wurzeln zu kehren. Erneut (oder: endlich wieder) liegt der Fokus auf Frauen, auf Müttern und Töchtern, auf den Gefühlsknoten, die sie verbinden und die Mysterien, sie sie entzweien. Vor allem aber ist die lose Adaption dreier Kurzgeschichten der kanadischen Schriftstellerin Alice Munro ein weiterer Beweis im größtenteils mindestens interessanten Output von Almodóvar, dass der paradiesvogelgleiche Auteur sich immer noch nach bestem Gewissen dafür einsetzt, geschlechtliche wie sexuelle Normen als gesellschaftliche Irrtümer zu dechiffrieren.

Obgleich Julieta nicht die fulminante Durchschlagskraft eines Alles über meine Mutter entfesselt, beweist der Oscar-Preiträger erneut sein ungemeines Feingefühl dahingehend, die Gefühlswelten seiner Protagonisten_Innen mit größtmöglichem Freimut auszuleuchten. Im Zentrum steht die titelgebende Julieta (famos: Emma Suárez & Adriana Ugarte), die Kummer und Schmerz zu lange der krampfhaften Verdrängung unterordnete und nun den Entschluss gefasst hat, ihre Vergangenheit in Form eines Briefes Revue passieren zu lassen, um auf Spurensuche zu gehen. Spuren, die den Namen der Schuld tragen; Spuren, die offenlegen, warum Julieta ihre Tochter Antía (Blanca Parés) verloren hat. Das emotionale Potenzial hätte in den falschen Händen schnell in melodramatischen Ausläufen verscheiden können, Pedro Almodóvar aber besteht es, in die Befindlichkeiten seiner Hauptdarstellerin einzutauchen und liefert eine Chronologie der Gefühlsbewegungen, deren wirklichkeitsnaher Rhythmus den Zuschauer fortwährend mitreißt.

In seinen kraftstrotzenden Aufnahmen entfaltet sich oftmals eine Poesie des Alltags, zu denen in seiner grellbunten, aber niemals überzogenen Art und Weise nur Pedro Almodóvar imstande scheint. Sein sattes Rot, der Lippenstift, der Nagellack, die Schuhe und die Wandfarbe, überflutet die Leinwand und gibt der sinnlichen Reise durch das Leben einer schmerzgebeutelten und von schicksalhaften Verstrebungen geprägten Frau eine farbdramaturgische (und farbpsychologische) Nachhaltigkeit. Und Nachhaltigkeit ist eines der elementaren Motive, die in Julieta zum Diskurs gestellt werden, geht es hier doch nicht nur um Vergänglichkeit, sondern explizit um den bedeutungskonstitutiven Faktor der Zeit: Sie dominiert alles. Und entweder, wir arrangieren uns mit ihrer Erbarmungslosigkeit und finden unsere eigene Linie, ganz dem Puls der Zeit entsprechenden. Oder wir kapitulieren, lassen Jahre zu Sekunden eindampfen und scheitern an der Vergangenheit, anstatt in der Gegenwart aufzuleben.

Julieta ist seit dem 5. Dezember auf Blu-ray und DVD erhältlich.

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