Kritik: Nymphomaniac Vol. 1 (DK, FR, GB 2013)

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Ich fühle nichts.

Anstatt einer Kritik würde ich an dieser Stelle viel lieber über den Formalismus in Lars von Triers Filmen schreiben. Denn auch im neuen Film des beliebten Regisseurs ist die Form wieder einmal der größte Hingucker und beeinflusst die Narration sogar weitaus stärker als gewohnt. Auch wenn man gerne glaubt, alles schon gesehen zu haben, gelingt es Lars von Trier immer zu überraschen. Als „Erneuerer des Kinos“ konnten seine Filme nie zu einer festen Form finden, so wie es anderen Filmemacher_innen, wie Michael Haneke, gelungen ist und trotz des brisanten Inhalts von Nymphomaniac liegt dessen Provokation doch ganz woanders.

„Ein Film sollte wie ein Stein im Schuh sein.“
– Lars von Trier

Beispielhaft war bereits das erste Plakat, das am Anfang einer immer zermürbenderen Marketing-Kampagne stand, die selbst unverbesserlichen Enthusiast_innen die Lust am Film zu nehmen versuchte: Zwei schwarze Klammer-Symbole auf hellem Untergrund. Die Klammer als Vagina und formalistisches Statement: Ein Bild, das nicht mehr reduziert werden kann und dadurch universell fassbar wird. Dieses minimalistische Credo ging im Laufe der zahlreichen „O-Faces“, Final-Cut-Eskapaden und Sex-Gerüchte verloren und wird erst mit dem Sehen des Films wieder zu tage gefördert.

Lars von Triers Inspiration hierfür kommt mal wieder von seinem Idol Carl Theodor Dreyer, dessen Filme den Grundstein eines filmischen Minimalismus setzten. Lars von Trier, der sich in den Achtzigern stark dem Kino Andrej Tarkowskys verschrieben hatte und mit seinen Kurzfilmen sowie der Europa-Trilogie für einen formalen Perfektionismus einstand, der sich aller verfügbaren Stilmittel bediente und mit ausladenden Bildern begeisterte, wurde erst mit der Arbeit an der TV-Serie „Geister“ und dem Auftakt seiner Goldherz-Trilogie, „Breaking The Waves“, zu dem Erneuerer des Kinos, der sich durch eigens ausgedachte Regeln („Dogma-95“), strikten Anti-Perfektionismus und der gleichzeitigen Lust am Chaos selbst „beschränkt“, wie wir ihn heute kennen. Und auch wenn Triers filmische Formen weitaus vielfältigere Wege gegangen sind, sei es das Theater-Konzept der unvollständigen USA-Trilogie („Dogville“, „Manderlay“) oder die Automavision-Kamera aus „The Boss of it All“, bleibt er als der Regisseur in Erinnerung, der bekanntlich mit seiner Wackelkamera das Publikum quält.

Dabei hat Triers Kino seit dem Ausbruch seiner Depression neue Wellen geschlagen, die nicht nur die vorherigen Formen neu denken, sondern auch den frühen Formalismus der Europa-Trilogie wieder miteinbeziehen. Bereits der donnernde Beginn seiner, wir nennen sie mal, Depressionstrilogie, „Antichrist“, zerrte Tarkowsky als Vorbild zurück in die erste Reihe und war dermaßen komplex kodiert und visuell überladen, dass das Ende des Dogma-Kinos endgültig besiegelt war. Obwohl Trier, die für ihn typische Handkamera beibehielt. Ebenso beim nächsten Film, „Melancholia“, sozusagen die romantizistische Sicht auf die eigene Depression im Stil eines Blockbusters, inklusive großer Spezialeffekte, blieb die Urheberschaft dank der sehr bewegten Kamera-Ästhetik und der elliptischen Montage unmissverständlich.

Und nun kommt „Nymphomaniac 1“ in die deutschen Kinos, der erste von zwei Teilen bzw. die erste von zwei Hälften, was die laufende Trilogie ja eigentlich zu einer Quadrologie machen würde, aber solch Inkonsequenz liebt Lars von Trier ja bekanntlich. Nach dem nötigen Abriss seiner Formalismus-Historie, lohnt es, sich auch „Nymphomaniac“ erst mal von außen zu nähern. Denn je tiefer man in Joes Geschichte eindringt, desto deutlicher fallen auch deren Schwächen auf.

Der Film beginnt mit einem langen Schwarzbild und einer minimalen Tonspur. Wir hören Geräusche, die noch nicht wirklich zuordbar sind. Erst als das Bild schlagartig hell wird, erarbeitet sich die Form Einstellung für Einstellung die Bindung zum Ton. Die Bilder skizzieren nur äußerst knapp den Raum der Szene. Ein Puzzleteil folgt auf das nächste, die für sich genommen bereits Vorboten des kommenden Films sind. Ein Metallring, besetzt mit rostigen Muttern, hängt an der Wand. Es schneit und tropft auf Mülltonnen, die einen verzweifelten, perkussiven Rhythmus erzeugen. Dieser Prolog aus offensichtlich sexueller wie gewalttätiger Symbolik wird darauf brutal zerstört. Ein harter Schnitt: Wir sehen endlich die Totale. Ein karger, verlassener Hinterhof, eine Frau liegt am Boden und Rammsteins „Führe Mich“ ertönt ohrenbetäubend laut. Der anfängliche Minimalismus ist gebrochen. Die Geschichte beginnt und es ist jetzt schon klar, dass dies ein Film ist, der sich ästhetisch alles zutraut und auch nicht an Kohärenz interessiert ist.

Die 145 minütige Long Version des ersten Teils, enthält laut der Produzentin Louise Vesth keine exklusiven Szenen, sondern ist im Gegensatz zur bereits in anderen Ländern erschienenen Kinofassung (119 min) langsamer geschnitten, gibt den Dialogen mehr Raum und zeigt den Sex auf explizite Weise. Dank aufwendigem Compositing wurden die Körper der Schauspieler_innen und denen der Sex-Doubles nahtlos miteinander verschmolzen. Die sehr natürliche Darstellung der Erotikszenen macht diese Computereffekte zum Glück schnell vergessen, da der Sex immer angenehm unspektakulär gezeigt wird.

Dennoch kommt meine Kritik nicht am Porno-Vergleich vorbei, den das Marketing und die Medien ja bereits monatelang forcieren. Ich habe nie erwartet, dass Lars von Trier einen Porno dreht und bloß die Mechanismen des Genres übernimmt, sondern, dass er den Sex auf seine eigene Weise inszeniert. Die Erotik in „Nymphomaniac 1“ ordnet sich gänzlich der Erzählung unter, speziell der Perspektive Joes, die allerdings, sonst wäre es ja zu einfach, ständig gebrochen ist.

Die Frau, die da mit Wunden übersät auf dem Hinterhof liegt, ist eben diese Joe (Charlotte Gainsbourg), die vom älteren Seligman (Stellan Skarsgård) gefunden wird. Er gibt ihr ein Bett und Zeit zur Regeneration. Währenddessen erzählt sie ihm ihre Lebensgeschichte als selbst erklärte Nymphomanin, die Seligman begeistert analysiert und kommentiert. Diese Erzählebene ist der Ausgangspunkt. Die Rückblenden werden gänzlich aus Joes Sicht erzählt und im Laufe des Films auch öfter von Seligman in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit hinterfragt. Joe ist eine unzuverlässige Erzählerin. Sie hat ein moralisches Anliegen, nämlich Seligman zu überzeugen, dass sie ein schlechter Mensch ist und ihre Erzählung dient auch nur diesem Ziel. Seligmans Kommentare erzeugen eine weitere Ebene. Wenn Joe von einem Wettbewerb zwischen ihr und der damaligen besten Freundin B (Sophie Kennedy Clark) erzählt, der daraus bestand, wer öfter Sex auf einer Zugfahrt hat, und Seligman ihr Jagdverhalten mit den Techniken eines Anglers vergleicht, dann illustriert die Montage diesen Vergleich mit Standbildern aus Lexika und pixeligen Angelvideos aus dem Archiv. Ästhetisch rein objektive Bilder treffen auf die subjektive Erzählung Joes, eine Dialektik mit starker Polarität, die bewusst den Blick distanziert und verfremdet. Das ist eben nicht nur Joes Film. Es ist auch Seligmans und beide Figuren bleiben den ganzen Film über auf gleicher Augenhöhe. Nur beide zusammen können quasi als Alter Ego Lars von Triers ausgemacht werden.

Inwieweit lässt sich die nackte Lust überhaupt intellektualisieren? Ist Sex nicht eigentlich ziemlich banal? Unter diesem Gesichtspunkt ist „Nymphomanaic“ am besten als Sittengemälde zu verstehen. Lars von Trier will wirklich provozieren bzw. die sexuellen Grundfeste der Gesellschaft erschüttern. „Vergiss die Liebe“ prangt auf dem Plakat. Liebe ist ein Konstrukt, Monogamie ist ein Konstrukt. Joe sieht sich auch als Aktivistin. In ihrer Jugend gründet sie sogar einen Klub aus Nymphomaninnen, die das katholische „Mea culpa“ kurzerhand zu „Mea vulva“ umdichten und unter Begleitung des Tritonus, dem Teufel in der Musik, besingen. Die Sexualität der Frau, die kulturhistorisch schon immer negativ gezeichnet wurde, stellt Trier hier ostentativ aus und verdreht bewusst die Vorzeichen. Joe, die Frau, ist selbst zutiefst davon überzeugt ein schlechter Mensch zu sein. Sie glaubt nicht an die Liebe, sondern nur an die eigene Lust. Wer weiß wie das Verhältnis zwischen Frauen und ihrer Sexualität in den meisten Fällen verhandelt wird, kann diese positive Provokation mühelos anerkennen.

Doch so sehr auch die Gründe für die Entstehung eines solchen Films auf der Hand liegen, bleibt das fertige Werk überraschend kalt und unsexy. Selbst Triers obligatorische Handkamera wagt sich nur zaghaft hinaus. Dafür gibt es Kamerafahrten und ruhige Bilder. Auch die Montage bleibt unauffällig. Die üblichen Jump-Cuts sind fast verschwunden. Nur an einer Stelle, wenn Joe mit Seligman spricht, gibt es einen Bildsprung, der dadurch umso stärker auffällt. Früher haben sich solche Schnitte im Wust der Handkamera verspielt. Lars von Triers Kino ist also wieder ein Stück hässlicher geworden, nicht roher, sondern hochkonzentriert unansehnlich, inklusive einer Powerpoint-Präsentation über die Kunst des Angelns.

Völlig aus dem Film zu fallen, droht das Kapitel um Joes Vater, gespielt von einem viel zu jungen Christian Slater, der im Krankenhaus liegt und dem Ende entgegen sieht. Ganz besonders hier fällt Stacy Martins eher schwaches Schauspiel auf, denn Trier will schon, dass wir ihre Trauer über das Dahinsiechen des Vaters nachvollziehen und frühere Schauspielerinnen, einschließlich Charlotte Gainsbourg, hätten auch keine Probleme gehabt das rüber zubringen. Doch so recht kauft man dem Film dieses Kapitel nicht ab, was dazu noch in gefühlvoll gemeintes schwarz-weiß getaucht ist. Es wirkt einfach unglaubwürdig und weist auch nie ästhetisch darüber hinaus.

Andere Kapitel, es gibt insgesamt fünf, sind dagegen sehr viel interessanter, allen voran das der Mrs. H, grandios verkörpert von Uma Thurman, wo die komische Seite des Films zur vollen Entfaltung kommt und die verschmähte Ehefrau einer von Joes regelmäßigen Sexpartnern samt Kinder ihre Wohnung stürmt und alle Anwesenden zur psychotherapeutischen Vorarbeit nötigt. Im letzten Kapitel erläutert Seligman Johann Sebastian Bachs Polyphonie, was Joe als Idee nutzt, um ihm die Mehrstimmigkeit der Nymphomanie zu erläutern, was im Liebesbekenntnis zu Shia LaBeofs Figur Jerôme gipfelt. Auch wenn die Idee LaBeouf als Love-Interest zu besetzen bis zuletzt bescheuert bleibt, ist gerade diese finale Sexszene ein Schlüsselmoment, da sich endgültig Seligmans Intellektualismus und Joes Hedonismus harmonisch überschneiden. Diese gefühlvolle Einigkeit kann aber auch nur von kurzer Dauer sein. Das Ende des ersten Films ist ein Cliffhanger. Während des angeblichen Liebesakts mit Jerôme erkennt Joe, dass sie nichts dabei fühlt. Die Liebe hat (glücklicherweise) nicht gesiegt.

Dieser sehr plötzliche Schluss macht auch deutlich, dass Triers Sex-Epos ungewollt geteilt wurde. Die Motive waren wohl eher kommerzieller als künstlerischer Natur, denn vieles in „Nymphomaniac 1“ wird zwar begonnen, schwebt aber bis zuletzt teilnahmslos im Raum herum; wie eine Argumentation ohne Satz nach dem Aber. Wirklich zu fassen wird „Nymphomaniac“ wohl nur in seiner Gänze sein. Die kurze Fassung des zweiten Teils startet bei uns bereits am 3. April. Doch vielleicht gehört auch diese Zweiteilung zu Triers Formspielerei. Noch nie hat der dänische Regisseur einen so kalten, unerreichbaren Film gemacht. Der unfassbaren Länge und vielschichtigen Narration steht ein Minimalismus gegenüber, der nicht nur Triers übliche Stilmittel über Bord wirft, auch die Ausstattung und die Kostüme köcheln wie in einem Carl-Dreyer-Film auf Sparflamme. Selbst die Sexszenen spenden keine Zerstreuung.

Die Lebensgeschichte einer Nymphomanin als Affront gegen die sexuelle Verklemmtheit unserer Gesellschaft mag ja Triers Agenda hinter dem Film gewesen sein, wirklich aufgerüttelt wird hier dennoch nur die prüde Elite. Da sein Sexkosmos bisher leider vornehmlich heterosexuell und weiß ist. Rassistische Klischees über „big black“ und „small yellow cocks“ machen es nur noch schlimmer. Vielleicht ist Lars von Trier auch schon zu lange Teil des Establishments. Vielleicht ändert sich auch alles mit dem zweiten Teil. Zurück bleibt ein formal beeindruckender Film, hässlich, kalt und abgewürgt auf halber Strecke. Wo bleibt die wahre Provokation? Liegt sie denn wirklich nur noch in der F()rm?

Gesichtet wurden der lange Director’s Cut.

Zur Kritik des zweiten Teils geht es HIER.

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