Cannes 2018: Halbzeit! (u.a. mit Cold War, Treat Me Like Fire & Three Faces)

Das Festival von Cannes läuft wie eine gut geölte Maschine jeden Tag munter weiter und in dieser Melange aus Galas, Promos, Deals und Partys schmiert das Öl der Cinephilie die ineinander greifenden Zahnräder. Irgendwo dazwischen, ich, immer noch überwältigt von Menschenmassen, Filmen und Glamour. Nun ist Halbzeit in Cannes und es sind wieder einige Filme seit dem letzten Bericht gelaufen; Zeit zu Rekapitulieren.

Gar nicht so glamourös wie oft in der Filmgeschichte vermerkt, fällt das Casino-Glücksspiel in Marie Monges Drama Treat Me Like Fire (Joueurs) aus. Darin spielen Stacy Martin, bekannt aus Lars von Triers Nymphomaniac, und Tahar Rahim (u.a. Ein Prophet) ein spielsüchtiges Pärchen. Erinnerungen an andere Liebesdramen im Drogen-Milieu (z.B. Candy) werden wach, nur dass hier das Heroin gegen Roulette ausgetauscht wurde. Ein allzu klammernder Rückgriff auf Konventionen wäre auch der größte Kritikpunkt an Monges Film, der sonst berauschend energetisch vom Abstieg in die Spielhölle erzählt. Allen voran: Tahar Rahim als undurchsichtiger Love Interest der sich sonst im betulichen Fahrwasser des Gastronomie-Alltags bewegenden Ella. Rahims Abel ist das Zentrum des Films. Durch seine Figur fließt die Philosophie des Films um Sieg und Niederlage als Triebfedern des Lebens. Die Idee: Nicht allein der Rausch des Gewinnens macht süchtig, sondern auch das Überleben der Verluste. Jede überwundene Niederlage lässt Abel stärker werden. Eben das, was ihn nicht umbringt. Dass diese Kurve irgendwann droht, diese fatale Grenze zu tangieren, ist die eigentliche Bedrohung des jungen Paares. Zu Beginn mag Ella sicher sein. Sie arbeitet im Restaurant ihres Vaters, das ihr sogar zur Hälfte gehört. Doch der Alltag gehorcht einer leblosen Mechanik. Sie nimmt Bestellungen entgegen und kassiert ab. Doch all das sind nur vorgefertigte Reaktionen auf vollendete Tatsachen. Das Glücksspiel, ja das Treffen von Entscheidungen allgemein, so erzählt es der Film, machen dich erst lebendig und somit zum Menschen.

Von einer fatalen Liebe erzählt auch der erste als Anwärter für die Goldene Palme gehandelte Wettbewerbsfilm. Cold War von Ida-Regisseur Pawel Pawlikowski spielt in der frühen Nachkriegszeit Europas. Im ländlichen Polen wird eine folkloristische Musik- und Tanzakademie gegründet. Der Gesangslehrer Wiktor (Boris Szyc) verliebt sich in seine Studentin Zula (Joanna Kulig). Er flieht bei einem Auftritt in Berlin in den Westen. Sie bleibt aus freien Stücken zurück. Jahre später treffen sie sich wieder, doch wie Europa zerrissen ist, so unmöglich scheint auch ein glückliches Leben gemeinsam zu gelingen. Cold War folgt im bisherigen Wettbewerb am ehesten einem klassizistischen Stil, da er mit wenigen Änderungen gar als ein Hollywood-Melodram der 40er Jahre durchgehen könnte. Geschichten von unmöglicher Liebe vor dem Hintergrund historischer Umbrüche sind eine Marke in der US-Filmgeschichte. Entscheidender sind bei Cold War allerdings die Unterschiede sowie die Vorzeichen seiner Entstehung. Denn nicht nur erzählt der Film von einer wahren Begebenheit, sondern ist eine äußerst persönliche Verarbeitung der Historie des Regisseurs selbst. Wiktor und Zula waren Pawlikowskis Eltern, die sich schlussendlich das Leben genommen haben. Warum? Eine Frage, auf die der Filmemacher sicherlich gerne selbst eine Antwort hätte. Hier beginnen die Leerstellen, die im Hollywoodkino sonst ausgiebig gestopft werden. Pawlikowski und sein Kameramann Lukasz Zal haben den Film als Abfolge lebender Schwarzweiß-Fotografien gestaltet. Jede Einstellung: Meisterlich geleuchtet und komponiert; selbst der Zigarettenrauch verflüchtigt sich im Goldenen Schnitt. Diese Stilisierung schafft Distanz, Distanz zu den wahren Ereignissen. Die Psychologie des Schauspiels kann auch nur einen Teil beantworten. Wenn am Ende der strengen Zeremonie des gemeinsamen Suizids Zula und Wiktor den Bildkader verlassen, dann kann die Kamera eben nicht hinterher schwenken. Nur ein D.W.Griffith-esker Wind fegt durchs Gras. Das fühlt sich wahrhaftig an, ohne erklärbar zu sein; eine Versöhnung mit den Eltern.

Lukas Dhonts Langfilmdebüt Girl, das in der Reihe Un Certain Regard zu sehen ist, macht eine ganz andere unmögliche Liebe erfahrbar. Lara (Wow: Viktor Polster) will eine professionelle Ballerina werden. Sie hat es sogar auf eine der besten Tanzschulen Belgiens geschafft. Doch sie muss härter trainieren als alle Anderen, denn Lara tanzt erst seit kurzem in den Schuhen einer Ballerina. Zuvor wurde sie noch Viktor genannt und stand auf der Seite der männlichen Tänzer. Die Sichtbarkeit von Transmenschen ist eine der großen Aufgaben des aktuellen, queeren Kinos. Die Akzeptanz, die sich Lesben und Schwule in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben, wird Trans- und genderfluiden Menschen oft noch nicht entgegengebracht, auch innerhalb der queeren Community. Ein Diskurs, der nicht erst bei der Akzeptanz der Anderen beginnt. Girl erzählt in erster Linie von Laras Unmöglichkeit ihren Körper zu akzeptieren. Denn auch wenn sie viel Unterstützung seitens ihrer Familie erfährt, sich bereits in Hormontherapie befindet und auch eine angleichende Operation geplant ist, die körperliche Transformation braucht Zeit; Zeit, die Lara nicht aufbringen will. Sie fühlt sich bereits weiblich. Warum kann sie nicht auch schon wie die anderen Mädchen in ihrer Klasse aussehen? Körperbilder von Frauen und Männern sind nicht nur für Cis-, sondern auch für Transmenschen vorgebend. Zwar ist Lara bereits innerlich eine Frau, aber der Großteil ihres Umfelds wie sie selbst können das erst akzeptieren, wenn auch das äußere Bild stimmt. Diesen Körperkonflikt übersetzt Dhont in eine ebenso körperliche Inszenierung. Laras Tanztraining wird von der Kamera schwindelerregend eingefangen und ihre körperlichen Schäden, ob durchs Tanzen oder dem Abkleben der Genitalien, lassen Black Swan schon wie Kinderkram erscheinen. Nur zum Schluss verlässt den Film die Körperlichkeit, was zugleich auch seine größte Schwäche ist, wenn sich Lara in einer unangenehm suizidal konnotierten Sequenz versucht, den Penis abzuschneiden; ein reißerischer und vom Film noch dazu kaum beachteter Schockversuch.

Eine Hausnummer des Festivals von Cannes sind auch die Midnight Screenings, vier bis fünf Filme, die außerhalb des Wettbewerbs um Mitternacht vorgeführt werden. Darunter ist oft ein asiatischer, vornehmlich koreanischer Genrefilm edelster Handwerkskunst. In den letzten Jahren waren es u.a. Train to Busan und The Wailing, die auch weit nach dem Festival das Publikum begeistern konnten. Dieses Jahr hat es Gongjak (The Spy Gone North) von Yoon Jong-bin ins Mitternachtsprogramm geschafft. Der Titel verspricht einen Spionagethriller und genau das ist Gongjak auch geworden: Geradlinig und Blockbuster-typisch eingängig, aber zum Glück auch durchgehend zum Zerbersten spannend. Der Film rekonstruiert äußerst frei den realen Fall des südkoreanischen Agenten Black Venus (Hwang Jung-Min), der Ende der 90er als Geschäftsmann getarnt Deals mit Nordkorea schließen soll, um herauszufinden, wie weit fortgeschritten das Atomprogramm Pjöngjangs ist, allerdings immer mehr zwischen die Fronten gerät. Klingt schon mal super und so ein bisschen darf man Südkorea für seine Blockbuster auch beneiden. Während in den USA effektlastige Superhelden-Schmonzetten dominieren und in Deutschland Matthias Schweighöfer, kann man dort mit raffiniertem Erzählkino an den Kassen trumpfen. Gongjak ist zudem politisch äußerst brisant, was vielleicht auch seine Aufnahme ins Programm erklärt, gerade im aktuellen Licht der Annäherung zwischen Nord- und Südkorea. So fungiert in erster Linie Geld, nicht ideologische Werte, als Gleitgel zum Frieden, während auf der anderen Seite die politischen Mächte von der gegenseitigen Bedrohung profitieren.

Anders als politisch fällt es auch schwer den iranischen Wettbewerbsfilm von Jafar Panahi zu lesen. Panahi steht seit acht Jahren unter Hausarrest und hat eigentlich auch Berufsverbot. Dennoch gelingt es ihm immer noch kleine, große Filme zu produzieren. Three Faces erzählt in erster Linie von zwei Gesichtern, das der Schauspielerin Behnaz Jafari und das von Panahi persönlich. Beide spielen sich quasi selbst. Das dritte Gesicht gilt es erstmal zu suchen. Ist es die junge Frau, mit deren Handyvideo der Film beginnt? Darin begeht sie scheinbar Selbstmord, weil ihre Familie ihren Wunsch Schauspielerin zu werden verhindert. Sie bleibt eine Gefangene ihrer Familie. Im Video macht sie Jafari direkt mitverantwortlich. Angeblich hat sie versucht Kontakt zu ihr aufzunehmen und um Hilfe gebeten, aber nie eine Antwort erhalten. Mit der Unterstützung von Panahi reist die schuldbeladene Jafari in das Dorf des Mädchens, um herauszufinden, ob sie sich wirklich umgebracht hat. Diese raffinierte Prämisse erlaubt es Panahi nicht nur, wieder möglichst viel im Auto zu sitzen, sondern in der Abgeschiedenheit des Dorfes und somit fern der iranischen Autoritäten, auch ein Abbild der ländlichen Bevölkerung zu zeigen. Auch wenn die filmischen Mittel spürbar begrenzt erscheinen, ist es beeindruckend, wie viel Panahi durch sie zu erzählen vermag. Über Begegnungen mit der Familie des Mädchens und anderen Dorfbewohner*innen wird ein feministischer Diskurs in Gang gebracht, der mehr zu sagen hat als: Böse Traditionen hier, gute Selbstbestimmung dort. Bravo, ein weiterer verdienter Palmen-Anwärter!

Das war die Halbzeit in Cannes. In meinem abschließenden Bericht könnt ihr euch u.a. auf Besprechungen zu Alice Rohrwachers Happy As Lazzaro, Ramin Bahranis Remake des Truffaut-Klassikers Fahrenheit 451 mit Michael Shannon und Bi Gans Neo-Noir Long Day’s Journey Into The Night freuen.

HIER könnt ihr mein erstes Cannes2018-Recap lesen. Ebenfalls habe ich bereits Kritiken geschrieben, beispielsweise zu Mandy mit Nicolas Cage und dem hervorragenden schwedischen Beitrag Gräns.

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