Kritik: Victor Frankenstein (US 2015)

© 20th Century Fox
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There is no Satan. No God. Only Humanity. Only ME!

Weniger ist mehr. In diesem beliebten Ratschlag steckt einiges an Wahrheit. Wirklich beherzigen tun ihn jedoch wenige. Hier dürfte mehr also schon mehr sein. Manchmal gilt auch das ironisch verdrehte „Mehr ist eben doch mehr“, was aber nicht die Wahrheit hinter dem Ursprungsspruch diskreditiert, denn eigentlich heißt „Weniger ist mehr“ nichts anderes, als das richtige Maß zu finden. Es ist ein Gebot zur Konzentration. Und wenn ein Film reich, ja geradezu überquellend reich, an (nützlichen) Ideen ist, dann verstößt das überhaupt nicht gegen dieses oberste Credo. Mehr ist manchmal mehr, aber zu viel mehr ist es eben nicht.

Leider lässt sich der neueste Revitalisierungsversuch von Mary Shelleys ikonografischem Frankenstein eher in letztere Kategorie einordnen. Denn die Grundlage dieser Erneuerung folgt vordergründig dem Anspruch einer Modernisierung, unter der die Macher_innen des Films, allen voran Regisseur Paul McGuigan und Autor Max Landis, größtenteils die bloße Vermehrung von Ideen, Versatzstücken, Plotelementen und Schnitten verstehen. Denn eines sollte man sich vor Augen führen: Shelleys Roman war bereits zutiefst modern. Das Wort steckt sogar im Titel. Die Idee vom gottähnlichen Menschen, der den Tod überlistet und selbst zum Schöpfer wird, gerät in Victor Frankenstein bestenfalls zur Randnotiz.

Die eigentliche Hauptfigur ist nämlich nicht die Titelfigur, gespielt vom komplett von der Leine gelassenen, Blut und Spucke keifenden James McAvoy (still hot!), sondern sein Assistent Igor, gespielt vom seltsam fehlbesetzten Daniel Radcliffe. Eine Figur, die weder im Roman, noch in den ersten Verfilmungen vorkommt und es trotzdem als buckliger Handlanger des mad scientist zu einigem popkulturellen Ruhm gebracht hat. Max Landis’ Drehbuch verfolgt eher eine Untersuchung der Beziehung dieser ungleichen Figuren, was ja auch keine schlechte Idee sein muss. Die Frage ist, warum er diese Geschichte im Dunstkreis von Shelleys Parabel erzählen muss.

Radcliffe, der auch den Off-Erzähler gibt, verlautbart zu Beginn bereits: „You know this story.“ Folglich führt der Film fort eine Geschichte zu erzählen, die wir noch nicht kennen. Sie beginnt in einem Zirkus im viktorianischen England. Igor ist fasziniert von der Anatomie des Menschen, zeichnet und studiert sie. Hauptberuflich arbeitet der bucklige, krumm gehende Mann als Clown, umgeben von Kolleg_innen, die nichts anderes als Spott für ihn übrig haben. Ausgenommen die schöne Luftakrobatin Lorelei (Jessica Brown Findlay), in die sich Igor heimlich verknallt hat. Als Lorelei einen Unfall erleidet, gelingt es Igor, dank seines Wissens und eines ominösen Manns aus dem Publikum, ihr Leben zu retten. Der Mann erkennt Igors Potenzial und befreit ihn aus den Fängen des Zirkus. Es ist der genialische, aufstrebende Wissenschaftler Victor Frankenstein, der Igor als Bruder im Geiste erkennt und bei sich aufnimmt. Die Pläne Frankensteins stellen sich aber selbst für einen solch wissenschaftsbegeisterten Mann wie Igor als zu wahnsinnig heraus. Nebenbei bandelt er mit der nun wieder genesenen und von einem schwulen Gönner in Seide gekleideten Lorelei an, während parallel noch ein Team von Scotland Yard Frankensteins Tätigkeiten auf der Spur ist, weil Inspector Turpin (Andrew „Moriarty“ Scott) sie für unmoralisch erachtet. Wie sie sehen, an Handlung mangelt es dem Film nicht, an einer guten Geschichte dagegen schon.

Now kiss already!
Now kiss already!

Denn das was der Film erzählen möchte, sind die Ähnlichkeiten zwischen den Geschichten. Welche Figuren sind Monster, welche Menschen? Wer ist wessen Schöpfung? Frankenstein erschafft nicht nur das „Monster“, was zum Schluss wie ein Endboss die Filmbühne betritt und auch wieder verlässt, sondern erschafft auch irgendwie Igor bzw. macht aus Igor einen anderen Menschen, befreit ihn, entfesselt sein Potenzial, lässt ihn (körperliche) Liebe erfahren. Frankensteins wahre Schöpfung, so empfiehlt es der Film, ist Igor. Und das ist leider keine gute Idee, jedenfalls nicht so wie McGuigan und Landis es in Szene setzen.

Schlägt man anfangs aufgrund Radliffes peinlichem Körperspiel die Hand ins Gesicht, weil in Hollywood anscheinend mal wieder keine wirklichen Schauspieler mit Behinderung verfügbar wahren, entschuldigt sich der Film quasi halb dafür, indem er Igor schnell einer Transformation unterzieht. Frankenstein erkennt natürlich sofort, im Gegensatz zum ebenfalls in Anatomie bewanderten Igor, dass er gar keinen Buckel hat, sondern nur ein großes Abszess, das voller Körpersaft gefüllt ist, und den Frankenstein ihm in einer der körperlichsten, queersten und seltsamerweise erotischsten Momente des Films selbst aus dem Leib saugt. Igors krummer Gang stellt sich natürlich als ebenso leicht zu heilen heraus. Eine Dusche, ein Haarschnitt und ein paar Tage mit orthopädischem Korsett später und der junge Mann ist nicht mehr wiederzuerkennen. Schlank, weiß und in vollem Besitz seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Kein Wunder also, dass Lorelei bereit ist das Bett mit ihm zu teilen. Leider entbehrt diese Liebesgeschichte jeglicher Saft. Findlays Figur wird zum bloßen Gewissen des Films erklärt. Frankensteins uneingeschränkter Wille zur Forschung und Grenzüberschreitung bildet den Gegenpol. Igor muss sich zwischen beiden entscheiden.

In seinen besten Momenten ist McGuigans Film so unterschwellig schwul, dass es eine wahre Freude ist, wahrscheinlich musste deswegen Lorelei als love interest eingeschleust werden. Und damit das Mainstream-Publikum keinen Protagonisten mit körperlicher Behinderung ertragen muss, gibt es eben zu Beginn diese kleine Episode eines viktorianischen Remakes von Queer Eye for the Straight Guy. Sie soll jedenfalls sichtlich den Grund dafür liefern, die Beziehung zu Lorelei „plausibler“ zu machen. Denn warum sollte sich so eine bildhübsche Frau in einen „Buckligen“ verlieben? Dass der Film diese bloße Makeover-Fantasie zur größten Leistung von Frankensteins Figur erhebt, ist leider sehr enttäuschend.

McGuigan verpackt diesen normativen Alptraum dagegen souverän in ein modern anmutendes Korsett. Das viktorianische London strotzt nur so vor Steampunk und CGI-Kulissen. Guy Ritchies Sherlock Holmes findet sich in den Actionszenen wieder. Leider rufen die meisten Bilder Erinnerungen an andere Filme hervor und oftmals rücken diese Erinnerungen in den Bereich eines Stephen-Sommers-Desasters wie Van Helsing. Am interessantesten ist im Vergleich die Zirkuswelt zu Beginn geraten, obwohl diese direkt aus Alejandro Jodorowskys Santa Sangre zu stammen scheint. Über all den Referenzen thront natürlich, trotz der großangelegten Ablenkung durch mehr Plot und Figuren, nicht nur Shelleys Roman sondern auch James Whales Filmklassiker Frankenstein mit Boris Karloff als Monster.

Whales Verfilmung ist bis heute prägend und sorgte damals für einigen Aufruhr. Das Design des Monsters ist popkulturell zementiert und wird auch in Victor Frankenstein, wenn auch ironisch gebrochen, aufgegriffen. Nichtsdestotrotz erinnert dieser Klassiker daran wie schön und einfach zugleich ein Film sein kann. Weniger ist mehr. Karloffs Monster unterwirft sich nicht, wird gefährlich, unberechenbar, am Ende wird es vom Mob verbrannt, schreiend. In Victor Frankenstein wird das Monster belebt, aber seine toten Augen verraten, dass es nicht „wirklich“ am Leben ist. Am Ende herrscht die Gewissheit, dass das lebendige und das tote, das gesunde und das ungesunde, das schöne und das hässliche getrennt gehören, irgendwie, begraben unter Drehbuchseiten. Whales Frankenstein ließ am Ende die Frage offen. Welcher Film ist wohl moderner? Welcher erzählt nun mehr?

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