Kritik: The Straight Story – Eine wahre Geschichte (USA 1999)

The Straight Story - Eine wahre Geschichte 1999

Das Schlimmste am Altwerden ist die Erinnerung an die Jugend.

David Lynch hat sich schon längst seinen ganz eigenen Ruf gemacht. Mit “normalen” Filmen hat es der gute Mann nicht unbedingt und spaltet Publikum wie Kritiker immer wieder aufs Neue. Die Ausnahme bildet das Drama Der Elefantenmensch, Lynchs wohl zugänglichster Film. Die Rede ist eher von Eraserhead, Blue Velvet oder Lost Highway, bei denen Lynch die Zuschauer an die eigenen Grenzen führt und den Surrealismus in einer unnachahmlichen Komplexität ausreizt. Im Klartext: Entweder man liebt Lynch oder man hasst ihn und seine extremen Verwirrspiele. 1999 schlug er wieder einen für sich ungewöhnlichen Weg ein und hat sich an ein familientaugliches Projekt mit vollkommen chronologischem Verlauf gewagt. Ob das nach Der Elefantenmensch nochmal funktionieren würde? Die Antwort ist eindeutig: Ja! David Lynch bewies wieder, dass er ein Meister seines Fachs ist und inszenierte mit The Straight Story einen gleichermaßen herzerwärmenden wie tiefgründigen Film.

Alvin Straight ist ein alter Mann. Die Hüfte schmerzt, die Augen wollen nicht mehr so richtig und mit seinem Bruder hat er sich vor langer Zeit zerstritten. Nachdem dieser nun einen Schlaganfall bekommen hat, will er die Chance ergreifen und ihn noch einmal im Leben besuchen, um die Vergangenheit aus dem Weg zu räumen. Mit einer Rasenmähmaschine macht er sich auf den Weg und trifft dabei die verschiedensten Menschen.

Ein großes Lob muss man an dieser Stelle an Angelo Badalamenti aussprechen, der mit seinem zarten und sensiblen Soundtrack den Film über weite Strecken trägt und Alvin auf seiner Mähmaschine immer wieder neuen, aber sanften Schwung gibt. Dazu die Verbindung mit Freddie Francis’ warmen und ebenso einladenden Aufnahmen, die den Film nicht selten wie ein herzliches Gemälde erscheinen lassen.

Die Rolle des gebrechlichen und eigensinnigen alten Alvin Straight wurde mit dem einstigen Stuntman Richard Farnsworth exzellent besetzt. In seinem letzten großen Auftritt spielt Farnsworth mit so viel Herzblut, als würde es hier um seine eigene Geschichte gehen. Nachdem er im Jahr 2000 im Alter von 80 Jahren seinem Leben selber ein Ende setzte, schaffte er es hier nochmal sich ein beeindruckendes Denkmal zu setzen. Die kleinen Nebenrollen sind neben dem klar dominierenden Farnsworth mit Sissy Spacek als Alvins Tochter Rose und Harry Dean Stanton als Bruder Lyle Straight ebenfalls stark besetzt.

Nachdem uns The Straight Story keinen Raum für Interpretationen und Diskussionen gab, gingen die Gespräche direkt zu Lynch persönlich über. Wieso entschied er sich ausgerechnet für einen Film dieser Art? Ist ihm die Lust am Chaos vergangen? Hat ihn das Alter etwa schon eingeholt und wird er sich von nun an nur noch handzahm durch die Filmgeschichte bewegen? Oder ist er einfach müde gewesen? Alles wilde und auch unnötige Spekulationen wie wir heute wissen, denn 2001 lieferte er uns mit Mulholland Drive wieder einen Mindfuck der Extraklasse und damit das für viele Filmfans größte Meisterwerk seiner Regiekarriere.. So kann man The Straight Story wohl auch als ganz persönliches Versöhnungsangebot und als ein Luftholen für seine weiteren Werke sehen.

David Lynch erzählt uns mit The Straight Story die wahre Geschichte über einen Mann, der sich auf eine über 400 Kilometer lange Reise zu seinem Bruder macht, um die Streitereien der letzten Jahre aus dem Weg zu räumen und die brüderliche Liebe endlich wieder einzufangen. Das ist aber nur der Kern der Geschichte. Vielmehr wird Alvins Reise zu einer Reise in sein eigenes Ich. Er muss sich seiner zerstörten und schweren Vergangenheit stellen, sowohl dem Problem mit seinem Bruder, als auch dem Geheimnis, welches er seit dem zweiten Weltkrieg mit sich herumträgt und welches tonnenschwer auf seiner Seele lastet. Der Weg wird zur späten Selbstfindung, zur Ebnung seiner Zukunft und zur Hoffnung, Versöhnung, Zusammenhalt sowie familiären Einklang zu finden. Alvin muss dafür das tun, was vielen so unendlich schwer fällt: er muss über seinen eigenen sturen und dickköpfigen Schatten springen.

The Straight Story zeigt uns worauf es im Leben ankommt. Und zwar die Dinge, welche schnell als Nebensächlich abgestempelt werden, obwohl sie einen viel größeren Wert tragen als das, was uns offensichtlich vorgestellt wird. Und genau diese Nebensachen spielen sich im Film auch nur am Rand ab und werden von der riesigen Geste der Reise etwas verdeckt. Doch wer die Augen öffnet, der sieht. Und wer sehen kann, der wird verstehen und fühlen. Denn auch in einem Lynch-Film wird nichts grundlos erwähnt und trägt immer einen tieferen Sinn in sich.

Der Film wird zwar in einem gemächlichen Tempo erzählt und ungeduldige Zuschauer werden sich mit Sicherheit schnell langweilen. Doch wer die nötige Ruhe, Verständnis und Feingefühl mitbringt, der erlebt hier etwas ganz Besonderes. The Straight Story ist ein emotionales und mit viel Fingerspitzengefühl inszeniertes Road-Movie mit großer philosophischer und poetischer Bedeutung und dazu ein Film, der nicht viele Worte braucht, denn allein die Bilder erzählen uns manchmal solch berührende Geschichten, dass man ganze Bücher mit ihnen füllen könnte. Glück und Trauer. Lachen und Weinen. Tod und Leben. Selten standen sich diese Dinge im Kino näher.

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