Kritik: Letztes Jahr in Marienbad (FR 1961)

Einer meiner 50 Lieblingsfilme!

Letztes Jahr in Marienbad Film 1961

Empty salons. Corridors. Salons. Doors. Doors. Salons. Empty chairs, deep armchairs, thick carpets. Heavy hangings. Stairs, steps. Steps, one after the other. Glass objects, objects still intact, empty glasses. A glass that falls, three, two, one, zero. Glass partition, letters.

1961 erreichte das (französische) Kino einen eigensinnigen Höhepunkt. Einen Versuch, das Drama mit der Avantgarde zu verbinden. Ein filmisches Experiment, welches die damaligen Kritiker in zwei Lager teilte und nichtsdestotrotz den Goldenen Löwen in Venedig gewann. Ein Mann und eine Frau, gekleidet in stilvoller Abendgarderobe. Kamerafahrten durch ein prunkvolles Schloss, untermalt von den penetranten Klängen einer Orgel. Eine Männerstimme setzt ein, ergeht sich in ständigen Wiederholungen. Die Exposition von Letztes Jahr in Marienbad gibt unweigerlich die Richtung für die darauffolgenden 90 Minuten vor. Was Alain Resnais (Hiroshima mon amour) damit geschaffen hat, ist ein mutiges Werk, das nicht davor scheut seine Zuschauer vor den Kopf zu stoßen. Retrospektiv auch ein notwendiges Werk, welches der Kunstform Film wichtige Anschübe gab und sie zu stetiger Veränderung trieb.

Immer wieder tastet Alain Resnais die gleichen leblosen Gesichter ab, gleitet unaufhaltsam durch das barocke Schloss. Alsbald wird es zum undurchdringlichen Labyrinth, in dem nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit alle Gäste für immer gefangen hält. Es führt kein Weg hinaus, egal wie oft die prunkvollen Gänge und Gärten auch durchschritten werden. Dabei gibt es keine Wahrheit und noch viel weniger eine Gewissheit. Befinden wir uns in der Realität oder ist alles nur ein Traum? Ein verblasster Schatten aus der Vergangenheit oder doch die Gegenwart? Fragen, die schlichtweg nicht beantwortet werden können – deren Beantwortung aber auch nicht zielführend wäre. Dafür ist Alain Resnais Glanzstück viel zu sehr suggestives Erfahrungskino und zu wenig an den Konventionen des Erzählens interessiert.

Letztes Jahr in Marienbad ist ein konsequentes Gegenstück zu drögem Storytelling, zu jeder Form von filmischer Konvention und sogar zur klassischen Erzählung an sich. Das wird auch in der konstanten Schere zwischen Bild und Ton deutlich. Das Gezeigte widerspricht dem Gesagten und trägt maßgeblich zur diffus verwirrenden Stimmung bei. Auf was sollen wir vertrauen? Auf das, was wir sehen oder auf das, was wir hören? Oder erliegen wir auf beiden Ebenen einer gewaltigen Täuschung? Alain Resnais Film ist widersprüchlich, entgleitet nur noch stärker, je mehr Gedanken man sich über ihn macht. Auch das trägt zu seinem Faszinosum bei, diese Undurchdringlichkeit, an der jeder Gedanke zwangsläufig abprallen wird.

Dabei ist Letztes Jahr in Marienbad in all seiner Abstraktheit auch ein Liebesfilm. Die Aufnahme einer Frau und eines Mannes, die zweifelsohne miteinander verbunden sind. Ob sie sich tatsächlich letztes Jahr in Marienbad oder einem anderen Kurort getroffen haben und was dort genau passiert ist, bleibt ungewiss. Wird hier das Trauma einer Vergewaltigung aufgearbeitet oder eine Affäre verdrängt? Unmöglich zu sagen, denn das Konkrete mischt sich rahmenlos mit dem Angedeuteten, verliert sich in den surrealen Traumwelten, die stets zwischen Sehnsucht und Verdrängung pendeln.  Dabei verliert sich der Zuschauer nicht etwa nach und nach in den Kompositionen, sondern ist bereits von Anfang an gänzlich verloren. Es liegt also an ihm, sich den Bildern zu öffnen und seine eigenen Erkenntnisse aus der schier endlosen Flut an Eindrücken zu destillieren.

★★★★★★★★

Letztes Jahr in Marienbad ist seit dem 20. September 2018 digital restauriert als Special-Edition-Blu-ray und als DVD erhältlich. Hier geht’s zum Trailer.

1 Comment

  • Moosrose

    Exzellente Kritik, genau so ist es!
    Der Film kann auf eine kaum auszuhaltende Art die zerrissene Liebe zwischen dem Höheren Selbst / der inneren Stimme und dem Unverstand / der Angst zeigen. Er zieht ein bipolares Spannungsfeld, einen Morast einer Gefühlswelt auf, die jeder kennt – nur sicher in unterschiedlicher Intensität. Man hat das Gefühl emotional zu ersticken und den Verlauf nicht mehr auszuhalten – genauso wenig wie seine innere Sehnsucht für Ewig zu unterdrücken. Mit jeder Szene, in der dies geschieht, entsteht das Gefühl, sein eigenes Selbst regelrecht abzuschleifen. Ein Selbsttötungsprozess auf Raten? Dieses Dilemma vermittelt die gesamte Kulisse. Zum Beispiel der Garten – das Symbol für lebendige und natürliche Wildheit der Natur, wenn die Figuren im Film mehrmals äußern, sie gingen nach draußen und kurz Impulse der Erleichterung skizziert werden. Doch das Draußen ist asphaltiert, tot, kantig und still. Der Film zeigt, dass man ein Leben lang damit verschwenden kann, zwischen Sehnsucht und Angst steckenzubleiben – Das eigentliche Gefängnis, in dem man von beiden Seiten zerschmiergelt wird. Es geht um die nicht realisierte Seiten des eigenen Wesens – der Film schlägt einen dabei regelrecht ins Gesicht, aber nicht durch generierte Emotionalisiering im außen, sondern in dem er die Beklemmung in unser Inneres hineinpflanzt – ohne dabei ein explizit kräftig Wörtchen zu verlieren, was gemeint ist. Die, die ihn mit Gefühl ansehen, wissen was hier läuft. Die Message könnte man mit Goethe ausdrücken: „Sobald Du Dir vertraust, sobald weißt Du zu leben.“

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