Im Mai gibt es aufgrund der wenigen Kinohighlights, und da ich ab dem 17. Mai über das diesjährige Cannes Filmfestival berichten werde, nur zwei Vorschauen (2. – 15. sowie 16. – 29. Mai).
Kinotipp der nächsten zwei Wochen: Nachdem er mit dem herausragenden The Innkeepers (2011) effektiv das Thema Depression behandelte, und zuvor mit The House of the Devil (2009) meisterhaft demonstrierte, dass sich guter moderner Horror nicht durch endlose Jump Scares und maximales Blutgespritze definieren muss, meldet sich das US-amerikanische Regietalent Ti West, viel zu lange nach diesen beiden Ausnahmewerken, jetzt endlich mit einem neuen Schocker zurück. Und X, so der simple kurze Titel, dürfte erneut als Horrorfilm des Jahres in Erinnerung bleiben, obwohl er mir nicht ganz so gut wie die beiden Vorgänger gefallen hat. Fans kommen übrigens erstmals im Kino in den Genuss von einem West-Film, The Innkeepers und The House of the Devil sind damals nämlich beide leider nur direkt für das Heimkino erschienen.
X ist nun fraglos der referenziellste (und das hat was zu sagen) unter den drei Filmen und bezieht sich ähnlich übertrieben auf seine Vorbilder wie jüngst Scream sowie Texas Chainsaw Massacre. Randnotizen zu Klassikern wie Psycho oder The Shining gibt es in X obendrein zur Genüge. Weder denkt Ti West den Spukfilm komplett neu (The Innkeepers), noch gelingt ihm eine dermaßen subtil-brachiale, unvergessliche Klimax wie mit The House of the Devil. Dennoch beweist Ti West erneut, dass er den US-amerikanischen Horrorfilm versteht wie aktuell niemand sonst und vermischt gekonnt. gleichsam grausam wie ironisch, Tobe Hoopers legendäres Kettensägenmassaker mit einem Pornodrehausflug, den sich alle Teilnehmer_innen (darunter Suspiria-Darstellerin Mia Goth) etwas anders vorgestellt haben. Die Atmosphäre ist hierbei gleichermaßen sommerlich-schweißtreibend wie in dem zeitlosen 1974er Klassiker. Ti West ist sich eben vollkommen dessen bewusst, dass er sich mit X nicht die Krone der Schöpfung aufsetzen möchte. Originell ist die Geschichte der jungen Truppe, welche in ein unerwartetes Blutbad gerät, nämlich höchstens insofern, wie nebenbei Generationenkonflikte und vor allem auch (Hütten-)Horrorklischees parodiert werden. Abheben kann sich Ti West, wie üblich, in Sachen Inszenierung. Dem Terminus “kurzer Prozess” gibt er geradewegs ein neues Gesicht. Darüber hinaus versteht es Ti West vor allem, im Gegensatz zu seinen Kolleg_innen, dass die Geschichte sich nicht vollkommen ernst nehmen muss, um zu wirken. Und so bietet X zwei fast durchgehend amüsante, schwarz-humorige, frische (anders als der zuletzt unsäglich ärgerliche Fresh) Stunden, wie ich sie mir gerne öfters im Kino wünschen würde. [Trailer]
Ebenfalls neu im Kino:
- Am 26. Mai startet das neueste Cruise-Action-Vehikel Top Gun: Maverick unter der Regie von Joseph Kosinski (Tron: Legacy, Oblivion), die Kritik folgt spätestens zum Kinostart. [Trailer]
Streaming-Tipp (ab dem 23. Mai in der arte Mediathek verfügbar, zudem am 30.05 um 20:15 bei arte TV): Flee aus Dänemark hat dieses Jahr etwas geschafft, was noch keinem Film zuvor bei den Oscars gelungen ist. Der animierte Dokumentarfilm war für alle drei Sonderkategorien, d.h. als bester Animations-, Dokumentar- und internationaler Film nominiert. Und diese drei Oscar-Nominierungen waren hochverdient, denn der Film von Jonas Poher Rasmussen ist einer der beeindruckendsten Dokumentationen der letzten Jahre. Es wird die Geschichte des afghanischen Flüchtlings Amir nacherzählt, der inzwischen als offen homosexueller Akademiker in Kopenhagen lebt. Dabei greift der Film auf einen schlichten Zeichentrickstil zurück, der gefühlt mit fünf Bildern pro Sekunde abläuft. Hat man sich daran erst mal gewöhnt, zieht einen die atemberaubende Odyssee von Amir aber in ihren Bann und seine herzzerreißende Geschichte lässt kaum ein Auge trocken. Unterfüttert werden die gezeichneten Szenen immer wieder von realen Aufnahmen Afghanistans und anderen Ländern zur damaligen Zeit, sowie von simplen, aber albtraumhaften Sequenzen in Schwarz-Weiß, die teils nur mit Bleistiftstrichen die Umrisse der Menschen zeigen, dabei aber ihre Wirkung nicht verfehlen. Obwohl nicht alles rund sein mag an dieser Dokumentation, fühlen sich die 88 Minuten ungemein intensiv an und Flee ist eine ebenso außergewöhnliche wie beeindruckende Animationsdoku geworden! | Dies ist ein Filmtipp von Gastautor Jan Benz (Jans Filmwelt). [Trailer]
Ebenfalls neu als Streaming:
- David Leans (Lawrence von Arabien) zeitlose Dickens-Verfilmung Oliver Twist (1948) mit Alec Guinness (die OV mit dt. UT ist aktuell im Prime-Abo* enthalten)
- Es war einmal in Anatolien und weitere Filme des vielfach ausgezeichneten, türkischen Filmemachers Nuri Bilge Ceylan (aktuell in der arte Mediathek)
Blu-ray-Veröffentlichung der Woche: Der Mann, der Liberty Valance erschoß (1962) ist ein Ausnahmefilm in der Vitae des Ausnahmeregisseurs John Ford, der bereits 1956 mit Der schwarze Falke einen außergewöhnlichen Western gedreht hat, und mutet als Höhepunkt seines kompletten Schaffens an. Nie hat er ausdrucksstarker inszeniert und keines der Drehbücher seiner Filme scheint dermaßen auf den Punkt erzählt. Hinzu kommt natürlich der unglaubliche Cast, denn James Stewart und John Wayne laufen Seite an Seite zu ihrer Höchstform auf. Herausgekommen ist im Großen und Ganzen John Fords großes Vermächtnis, welches im Erscheinungsjahr von ebenso großer politischer Bedeutung war und auch heute noch ist. Der Mann, der Liberty Valance erschoß ist ein Paradebeispiel für einen zeitlosen Klassiker. Am 19. Mai erscheint das Western-Meisterwerk frisch restauriert als 4K Ultra HD Blu-ray*.
>> Einer meiner Lieblingswestern <<
Weitere Heimkino-Veröffentlichungen:
- Das oscarprämierte Venus-Schwestern-Biopic King Richard mit Will Smith [ab dem 19. Mai auf Blu-ray*]
- Potsy Poncirolis Western Old Henry mit Tim Blake Nelson [ab dem 26. Mai auf Blu-ray*]
- Céline Sciammas gefeierter Petite Maman [ab dem 27. Mai leider nur auf DVD*, auf Blu-ray erscheint der Film erst am 22. Juli im Céline Sciamma Box Set*]
- Paul Schrades sehr sehenswerter The Card Counter mit Oscar Isaac [ab dem 27. Mai auf Blu-ray*]
- Francis Girods Gaunerkomödie Trio Infernal mit Romy Schneider und Michel Piccoli [in Deutschland erstmals ab dem 27. Mai auf Blu-ray im limitierten Mediabook* erhältlich]
Zudem werbefrei im Fernsehen (im Rahmen des diesjährigen Festival de Cannes):
- Am Montag, 16. Mai um 21:45 Uhr zeigt arte Paul Verhoevens meisterhaften Psychothriller Elle, in welchem Isabelle Huppert in der Hauptrolle begeistert
- Am Mittwoch, 18. Mai um 21:50 Uhr läuft, ebenfalls auf arte, das AIDS-Aktivistendrama 120 Beats Per Minute, welches 2017 in Cannes und über das Festival hinaus für Begeisterung sorgte, in Deutschland jedoch nach wie vor viel zu unbekannt ist.
- Und am Mittwoch, 25. Mai um 22:10 Uhr zeigt arte dann noch Wong Kar-wais modernen Hongkong-Klassiker In the Mood for Love (2000) mit Maggie Cheung und Tony Chiu-Wai Leung
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