Autor: Pascal Reis
“I refuse to become what you call normal.”
Jean-Luc Godard spaltet die Gemüter mit provokativer Vorliebe. Dabei stellt er für den Großteil der Filmliebhaber so etwas wie den eindrucksvollsten Virtuosen der Filmgeschichte dar, der durch sein gezieltes Vorstoßen gegen herkömmliche Sehgewohnheiten nicht nur an die Fiktion der Illusion des Kinos erinnert und dadurch auf jede tradierte Regel gepfiffen hat, sondern auch durch sämtliche (Re-)Zitierungen und Referenzen aus den verschiedensten Kunstbereichen seinen Platz als unantastbarer Visionär im Herzen der Cineasten gesichert hat. Auf der anderen Seite steht allerdings ein Haufen stirnrunzelnder Zweifler, die Godards filmhistorische Bedeutung ohne Wenn und Aber in ihrem vollem Ausmaß akzeptieren, die Gegenliebe des Publikums aber nicht wirklich nachvollziehen können. Da werden die obligatorischen Beschuldigungen der Inhaltsleere aufgegriffen, die Godard durch angesprochene Versatzstücke aus den angesammelten Chroniken von sämtlichen Philosophen und Politikern aufarbeitete, um sie in seinen formalen (Anti-)Stil zu montieren.
Kann man einen Film daher als »Gelungen« bezeichnen, wenn sich ein Regisseur mit den rhetorischen Lorbeeren anderer Künstler schmückt und dadurch enorme literarische Kenntnisse voraussetzt, um dem Zuschauer so auch zu ermöglichen, bis auf den philosophischen Kern vorzustoßen? Dazu kommt natürlich noch die eingekesselte Motivation Godards, die in ihrer angestrebten Tragweite nur funktioniert und sich entfalten kann, wenn sie in ihrem zeitlichen Kontext beleuchtet wird und so durchaus in der Lage ist, gesellschaftliche Missstände zu reflektieren. Unkenrufe treffen auf Lobhudeleien, aber ein gemeinsamer Nenner wird in diesem konzeptionellen Kritisieren nie gefunden werden. Es steht jedoch außer Frage, dass Godard ein Filmemacher ist, der viel Aufmerksamkeit verlangt und auch den Personen einiges bieten kann, die sich eher in der widerwilligen Gruppe einquartiert haben. Ein Paradebeispiel ist sein inkomparabler Genremix »Alphaville«.
Jean-Luc Godards uvre ist eine mathematische Gleichung ohne prinzipielle Replik. Das beschwört in seiner kinematographischen Verzerrung reichlich Gegenwind, bleibt jedoch immer ein unspezifisches und anarchisches Filmerlebnis, welches man schlussendlich liebt oder verabscheut. »Alphaville« macht es dem Zuschauer in seiner Aufmachung deutlich leichter und gewährt ihm obgleich es natürlich immer noch ein Godard bleibt und daher kaum vergleichbar mit anderen Filmen ist schnell den nötigen Zugang zum Handlungsschema zu finden. Vor allem ist es doch herrlich zu beobachten, wie ein Filmemacher eine klare Vision verfolgt, sich selbst dabei vollkommen treu bleibt und dennoch die Türen für ein größere Publikum öffnet, gleichzeitig seine Cinephilie nach Lust und Laune frönt. Dabei erweist es sich auch deutlich leichter, das Grundgerüst von »Alphaville« zu erläutern, als einem Außenstehenden zu erklären, in welcher Genrekategorisierung sich Godards Werk am wohlsten fühlt.
Man muss sich eine Welt vorstellen, in der jede Art von Gefühl strengstens verboten ist. Eine Welt, in der menschliche Wärme keinen Wert besitzen darf und das Wort »Liebe« vollkommen aus dem Wortschatz der Bevölkerung der Stadt Alphaville gestrichen wurde. Wer sich in einem Moment der Schwäche von seinen Emotionen leiten lässt, dem droht die Liquidation. Allerdings ist es nicht nur strikt untersagt, seinen Empfindungen freien Lauf zu lassen, auch die schriftliche Form seinen Gefühlsregungen und Stimmungslagen durch beflügelte Worte Ausdruck zu verleihen führt in den Tod. Alphaville wird von einem Supercomputer gesteuert, der seine Theorien über die Stadt schallen und ein Lexikon zur Bibel werden lässt Jedes nicht eingetragene Wort ist ein Verbrechen. Es ist klar, dass Godard sich hier an einer Ausrichtung der Dystopie versucht und eine Gesellschaft publiziert, die jeden erstrebenswerten Lebenssinn in den inhumanen Vorschriften erdrückt hat. Dennoch versteckt sich hinter der godardschen Dystopie kein Abbild einer durch Sci-Fi-Materialien dominierten Epoche, sondern ein herber Schlag in die Richtung Gegenwart.
Das titelgebende Alphaville ist kein Ort in ferner Zukunft, errichtet auf einem fremden Planeten. Dieses Alphaville bekommt den französischen Rahmen durch das Paris des Jahres 1965. Dabei ist der Film nicht auf diese urbane Lokalität konzentriert, sondern verbreitet eine universelle Botschaft: Der Schrecken ist kein Bruchstück unserer entfernten Zukunftsängste, das Schreckensszenario hat in Wahrheit schon längst begonnen und klopft mit eisiger Härte gegen unsere Haustür. Diese Form von Leben scheint so fremd, so unterkühlt, so unnahbar, doch wir werden ihr früher oder später zum Opfer fallen. Es ist eine deprimierende Welt voller Technik-Sklaven, in die Godard uns entführt. Es ist die Welt, in der wir eigentlich bereits angekommen sind; die Abwesenheit von Menschlichkeit wächst von Tag zu Tag Willkommen in der Entfremdung. »Alphaville« ist somit nicht nur ein dystopisches Szenario, in dem der Zuschauer mit einem eigenerschaffenen Abgrund von entmenschlichenden Sozialstrukturen konfrontiert wird, es ist die Kritik an fehlerhaften Verhaltensweisen und ihrer Gier nach dem technologischen Fortschritt, der sie irgendwann in die Knie zwingen wird. Ganz im Sinne von James Camerons »Terminator«, thematisiert auch »Alphaville« den Kampf zwischen Mensch und Maschine.
Interessant ist ebenso die Bestimmung des Protagonisten: Ein Privatdetektiv, der nicht nur aus den schroffen Groschenromanen vom Bahnhofskiosk der 50er Jahre entsprungen sein könnte, sondern tatsächlich aus einer anderen Zeit stammt. Eddie Constantine hat bereits einige Male zuvor den Ermittler Lemmy Caution gegeben, allerdings nie in der qualitativen Ausgangslage wie er es in die Godards »Alphaville« konnte. Jedoch ist diese Reaktivierung eines rauchenden und affektiv handelnden Schnüfflers keine bloße Zitierung, Caution dient als letzter Halt im Vergessen der Metamorphose und dem Untergang der Gefühle, der der Logik des Systems noch etwas entgegenzusetzen hat und sich nicht vollkommen verstrahlt der Resignation hingibt. Caution ist die letzte Verbindung zu der Welt, in der wir unseren Lebensabend verbringen möchten. In der eine Träne nicht zu Todesängsten führt und ein offenes »Ich liebe Dich« nicht direkt ins Grab manövriert. Schlussendlich muss ein Gedicht herhalten, um eine unwürdige Anlage zerbrechen zu lassen und die Furcht vor Zärtlichkeit endgültig zu nehmen.
Wenngleich sich »Alphaville« nicht immer vollkommen ernst nimmt, funktioniert der Film doch hervorragend als entlarvender Zerrspiegel unserer Realität und führt die erschreckenden Mechanismen der eingepflanzten Automatismen zwischen Film Noir und Sci-Fi-Anleihen konsequent vor. Kein Film, der nur für intellektuelle Feingeister bestimmt zu sein scheint, sondern ein Anliegen hat, welches den von vielen verhassten Mikrokosmos Godards problemlos sprengt und natürlich das zentrale Thema in seinem Schaffen die Liebe in einem originellen Diskurs über ihre immense Signifikanz behandelt. Am Ende siegen die Emotionen und Alphaville ist nicht mehr länger die Stadt, in der für Gefühle gestorben wird, sondern geht wieder zurück in Richtung Paris, die Stadt, in der die Liebe ihr Domizil zu haben schein