Eine Gastkritik von Hendrik Warnke
– gesehen im Rahmen der 74. Berlinale 2024 –
2020 und 2021 war eine schwierige Zeit fürs Kino. Lichtspielhäuser selbst waren lange Zeit geschlossen, einige endgültig, viele Festivals sind ausgefallen oder fanden nur virtuell statt und diverse Filmproduktionen wurden verschoben oder abgebrochen. Das ist natürlich alles nichts Neues, allerdings ist es immer wieder traurig und zugleich interessant zu sehen, welche Filme in dieser Zeit trotz erschwerter Umstände rauskamen, dann aber völlig untergegangen sind. Ein Film, der diesem Schicksal zumindest in Ansätzen entgehen konnte, ist We’re All Going to the World’s Fare von Jane Schoenbrun. Debütiert auf Sundance Film Festival 2021, dann nach langem Schweigen 2022 immerhin einen Limited Theatrical Release bekommen und wenig später bei HBO Max gelandet, konnte We’re All Going to the World’s Fare verspätet tatsächlich ein wenig Hype um sich generieren.
Und auch wenn ich ihn eher mäßig fand, bin ich keineswegs überrascht darüber. Ich habe wenig Filme gesehen, die so gut den Pandemie-Zeitgeist, geprägt von Einsamkeit und Gefühlen von Realitäts- und Zeitverlust, einfangen wie Schoenbruns No-Budget-Fiebertraum. Ein Film, der sich echt anfühlt, direkt aus dem Leben gegriffen. Denn bei aller möglichen Kritik kann man We’re All Going to the World’s Fare eine Sache nicht absprechen, er versteht junge Menschen (zumindest die in den USA). Entsprechend ist es auch wenig verwunderlich, dass ausgerechnet A24 sich dazu entschieden hat, Jane Schoenbrun mehr Budget für das nächste Projekt zu geben. Und voilà, geboren ward I Saw the TV Glow.
Wie auch We’re All Going to the World’s Fare ist I Saw the TV Glow beim Sundance debütiert, diesmal aber direkt mit ordentlich Lob im Gepäck. Und auch ich kann mich diesmal nur anschließen. I Saw the TV Glow ist ein wahnsinnig faszinierender Film, über den man vorab inhaltlich gar nicht allzu viele Worte verlieren sollte bzw. das auch gar nicht so wirklich kann. Zu kryptisch und schleierhaft ist er dazu erzählt, sodass eine jede Schauerfahrung so persönlich und universell sein dürfte, dass man teilweise ganz unterschiedliche Dinge aus dem Film mitnimmt. Wenn man sich mit Jane Schoenbrun, dem queeren Untergrund-Kino sowie allgemeinem Queercoding im Film auskennt, wird man sicherlich eine etwas gerichtetere Seherfahrung haben. Aber auch dann muss man für sich selbst entscheiden, welche Akzente man im Vordergrund sieht bzw. ob man sich der bewussten Ambiguität zu sehr entziehen möchte.
Denn im Kern ist I Saw the TV Glow Surrealismus vom Feinsten. Ein Film, der sich logisch nicht komplett entschlüsseln lässt, der nicht nur zu einem assoziativen Schauen einlädt, sondern ausschließlich dieses zulässt und sich inszenatorisch irgendwo zwischen Traum und Albtraum befindet. Und in dieser Hinsicht ist I Saw the TV Glow ganz großes Kino. Ich könnte jetzt lange meine persönliche Interpretation rund um Identitätsbildung durch Popkultur, Transition und Transgression und der Gefangenheit im Status Quo darbieten, aber stattdessen möchte ich es kurzhalten und sagen: Guckt diesen Film. Lasst euch von seiner Musik, seinen Farben, seinen Bildern verzaubern und sucht nicht nach der richtigen Antwort. Erkundet, was der Film mit euch macht, was euch in den Sinn kommt und was ihr persönlich aus ihm mitnehmen könnt. Wenn euch das gelingt, wird I Saw the TV Glow mit Sicherheit eines eurer Highlights im Filmjahr 2024 sein.
★★★★★★★☆
I Saw the TV Glow hat bisher noch keinen deutschen Kinostarttermin.