Eine Gastkritik von Marc Trappendreher
“Do your dreams come true?”
Der polnische Filmemacher Krzysztof Kieślowski schuf in den Jahren 1993 und 1994 eine Filmtrilogie, die nach der Trikolore der französischen Nationalflagge konzipiert und nach den Werten des Leitspruchs ‚Liberté, Egalité, Fraternité‘ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) aufgebaut ist, die die Französische Revolution (1789-1799) proklamierte. Heute, dreißig Jahre später, scheinen die drei Filme mit Blick auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse Frankreichs womöglich bedeutender denn je – so eindringlich treffen sie Kernfragen des menschlichen Zusammenlebens. Die Farbentrilogie sollte die letzte Filmreihe des 1996 verstorbenen Regisseurs sein – es ist in mancher Hinsicht die Summe seines Gesamtwerks, das in den späten Sechzigern seinen Anfang nahm. Aus dem Dokumentarfilm kommend, war eine unmittelbare an die Realität geknüpfte Darstellungsweise immer schon wichtig für den polnischen Regisseur Krzysztof Kieślowskis, der sich zeitlebens als ein filmischer Vermittler für humanistische und existenzielle Werte sah.
Krzysztof Kieślowskis erste Arbeiten schreiben sich den Kontext der moralischen Unruhen in Polen ein, er wurde somit – neben Krzystof Zanussi und Agniezka Holland – zu einem bedeutenden Vertreter der zweiten polnischen Welle in den auslaufenden Siebzigerjahren. Sein wohl treffendster Film in dieser Hinsicht war Der Zufall möglicherweise – obwohl 1981 fertiggestellt, wurde dieser systemkritische Film erst 1987 veröffentlicht. Äußerst klarsichtig stellt Kieślowski darin das kommunistische Regime gegen die im Untergrund tätigen Resistenzler. Es geht hier zunächst um grundlegend inhaltliche Themen, um ethisch-moralische Fragestellungen, nicht so sehr um eine neue Form der Filmsprache. In drei komplett unterschiedlichen Versionen eines menschlichen Schicksals wird ein Spannungsfeld zwischen Determinismus und Zufall ausgelotet. Es sind Leitgedanken, die später auch in die Drei-Farben-Trilogie einfließen sollen. Seine beiden Zwillingsfilme Ein kurzer Film über die Liebe und Ein kurzer Film über das Töten (beide 1988) trugen den kieślowskischen Lehrfilm-Charakter noch stärker in sich – als parabelhafte Geschichten über Liebe und Tod angelegt, erzählten diese beiden Werke bereits von der Menschenwürde, die einem jeden Leben gegeben ist. Diese dezidiert ethisch-reflexive Haltung Kieślowskis, die nie erzieherisch-moralisierend wird, gipfelte dann in der 10-teiligen Fernsehserie Dekalog (1988-1999), die sich an den 10 Geboten orientiert.
Bis zu einem gewissen Grad ist Kieślowskis Drei-Farben-Trilogie nur aus diesem historischen Kontext heraus zu begreifen. Zwar hat Kieślowski sich mit der Trilogie stärker von der spezifisch polnischen Färbung seiner vorherigen Filme entfernt, nicht aber hinsichtlich seines thematischen Zuschnitts, der hier universelleren Charakter annimmt. In Frankreich mit namhaften französischen Stars besetzt (Juliette Binoche, Julie Delpy, Irène Jacob und Jean-Louis Trintignant) und dem Direktverweis auf die Leitgedanken der Französischen Revolution als tiefmenschliche Bewegung für Grundwerte, präsentieren sich die Filme in ihrem ganz zeitgenössischen Setting mitunter als verschlüsselter als die vorangehenden Filme, weil sie nicht mehr direkt in einem sozialistischen polnischen Staat im Umbruch zu verorten waren. Das macht sie indes nicht weniger realistisch: Gerade die Drei-Farben-Trilogie bildet eine perspektivische Annäherung an einen ‚inneren Realismus‘ aus, insofern die Filme auf ‚das Innerste im Menschen‘ abzielen, das per se nicht abbildbar ist. In Westeuropa, auf Festivals und von einem cinephilen Publikum mögen sie gerade aufgrund dieser Faktoren viel bereitwilliger aufgenommen worden sein.
Der erster Teil Blau berichtet von einer Frau, die nach einem Verkehrsunfall Mann und Tochter verloren hat – die schmerzvollen Erinnerungen hinter sich lassen wollend, flüchtet sie sich in die Musik, die ihr ein neues Lebens- und Freiheitsgefühl gibt. Im Zentrum des zweiten Teils Weiß steht zunächst die Scheidung eines polnischen Mannes von seiner französischen Frau, für die er aber immer noch Gefühle hat. Der polnische Friseur kehrt in sein Heimatland zurück, das gerade aus einer Zeit der politischen Umbrüche kommt und inszeniert in der Folge seinen Tod, um seine ehemalige Partnerin nach Warschau zu ziehen. Der dritte Teil Rot fokussiert die Beziehung zwischen einer Genfer Studentin zu einem verbitterten Richter im Ruhestand. Zwischen der jungen Frau und dem entfremdeten Mann entsteht eine Freundschaft, die zu beidseitigen Einsichten führen. Daneben gibt es ein weiteres Paar, diesmal ein junger Jurist und seine Verlobte, deren Beziehung abstirbt.
Insgesamt bietet die Trilogie nicht nur eine ästhetische Erfahrung im Sinne seiner sehr komponierten Farbdramaturgie, sondern regt auch zum Nachdenken über die menschliche Natur und das gesellschaftliche Zusammenleben an – dieses Auslösen immer neuer Gedankenanstöße macht den Wiederanschauwert der Reihe im Besonderen aus. Kieślowski nutzt eine präzise visuelle Symbolik und eine subtile Erzählweise, um die inneren Konflikte und Beziehungen der Protagonisten zu beleuchten. Begleitet von der dezenten Filmmusik von Zbigniew Preisner erreicht die Drei-Farben-Trilogie in seinen prägnantesten Momenten eine emotionale Tiefe, die unmittelbar über die Gestik und Mimik seiner Darsteller gestiftet wird.
Nicht immer erschließen sich einem die Bezüge zu den entsprechenden Leitmotiven der Französischen Revolution in den einzelnen Filmen direkt, mehr aber wenn man sie als Gesamtwerk betrachtet – dafür spricht allein schon der Hinweis, dass Kieślowski die Filme untereinander direkt in Verbindung setzt: Sie spielen zur gleichen Zeit an mehreren Orten und eine Szene in einem Gerichtssaal zeigt er gleich multiperspektivisch in den ersten beiden Filmen, während das Ende des dritten Teils alle Filme übergreifend miteinander verbindet. Die Frage nach dem Schicksalhaften und dem Zufälligen hat er hier zu einem eindrucksvollen Triptychon geformt, das zu einem tiefgründigen und vielschichtigen Panorama menschlicher Werte und Beziehungen wird, in denen der Glaube an die Überwindung diverser Verständigungsprobleme und Entfremdungserscheinungen leise obsiegt – darin liegt der tiefere Humanismus Kieślowskis.
Die Neuausgabe der Filmtrilogie, die vor Kurzem von Studiocanal auf Basis eines 4K-Transfers veröffentlicht wurde, bietet eine bessere Bildauflösung als die 2013 erschienene Edition. Sie arbeitet das Farbenspiel, das für diese Filmtrilogie so bedeutsam ist, umso prägnanter heraus – es ist die Würdigung eines der wichtigsten polnischen Filmemacher des vergangenen Jahrhunderts, dessen Werk hinsichtlich der Komplexität und Dichte der philosophischen Gedankengänge seinesgleichen sucht. Als Schmankerl sind zudem Kieślowskis ebenfalls bewundernswertes und mit Irène Jacob besetztes Drama Die zwei Leben der Veronika (1991) enthalten, als auch Kommentare des Regisseurs zu einigen Szenen, Interviews mit Juliette Binoche, Irène Jacob sowie Julie Delpy, ein 24-seitiges Booklet, ein Making-of von Rot und Trailer.
Verleih Blu-ray: Arthaus / Studiocanal
Regie: Krzysztof Kieślowski
Darsteller: u.a. mit Juliette Binoche, Irène Jacob und Julie Delpy
Filmmusik: Zbigniew Preisner
FSK-Freigabe: ab 12
Laufzeit gesamt: 6 St. 27 Min.