Bei Filmfestspielen beschleicht mich immer ungefähr zur Festivalhalbzeit die Angst, dass ich mir immer genau die falschen Filme aus dem riesigen Angebot herausgepickt und die cineastischen Sahnestückchen gnadenlos übersehen haben. Meist trügt dieser Eindruck, ein kurzer Blick auf das bisher Gesehene reicht, um festzustellen, dass ein guter Durchschnitt an lohnenswerten Sichtungen erzielt wurde. Dieses Jahr scheint meine Sorge jedoch nicht gänzlich unbegründet, denn die Berlinale 2018 hat für mich bisher größtenteils Mittelmaß und einige handfeste Enttäuschungen zu bieten. Die größte Gurke der Festspiele ist bisher Kim Ki-duks nahezu unerträglich stupide Studie über das Böse im Menschen Human, Space, Time and Human (Inkan, Gongkan, Sikan Grigo Inkan).
Homo homini lupus (Übersetzung: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen) – das wusste bereits der römische Komödiendichter Titus Maccius Plautus. Knapp 2200 Jahre später macht der koreanische Regisseur Kim Ki-duk, immerhin Preisträger des silbernen Bären 2004 für den Film Samaria, diese Weisheit zum Leitmotiv seines neuen Films Human, Space, Time and Human und serviert dem Zuschauer eine simplifizierte Variante der orwellschen Dystopie-Fabel Farm der Tiere, die er mit fragwürdigen religiösen Motiven anreichert und in Blut und Gewalt ertrinken lässt. Auf einem alten Kriegsschiff treffen verschiedene Vertreter der koreanischen Gesellschaft zusammen, um gemeinsam eine Reise anzutreten – unter ihnen ein „ehrbarer“ Senator mit seinem Sohn, ein frisch verheiratetes Ehepaar, skrupellose Gangster und eine Menge schräger Gestalten. Bereits in der ersten Nacht eskaliert die Situation und es kommt zu grausamen Massenvergewaltigungen und blutigen Gewaltverbrechen. Doch die sündhaften Passagiere bekommen prompt die Quittung für ihre Taten: Einer göttlichen Strafe gleich, erhebt sich das Schiff in luftige Sphären. Über den Wolken entbrennt nun ein Kampf ums nackte Überleben.
Noch während der Vorstellung beugte sich meine Begleitung zu mir rüber und flüsterte: „Wir sollten uns noch einmal vergegenwärtigen, dass dies der gleiche Regisseur ist, der Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling gedreht hat. Und in der Tat, nach diesem Film ist es schwer vorstellbar, dass dieser Regisseur jemals einen brauchbaren Film gedreht hat. Dabei ist es nicht so, als dass ich dem Genre per se nichts abgewinnen könnte. Die schleichende Verrohung des Menschen durch den allmählichen Verlust der moralischen Grenzen, d.h. der eigentliche Verlust der Menschlichkeit im animalische Kampf um das nackte Überleben, bieten in einem abgeschlossenen Mikrokosmos großartige inszenatorische Möglichkeiten für fähige Regisseure, wie Genre-Perlen wie The Divide beweisen. Kim Ku-duk nutzt das Übermaß an gezeigter Gewalt jedoch nicht als treibende Kraft der Figurenentwicklung, es bleibt lediglich Mittel zum Zweck. In der inszenatorischen Allgegenwärtig werden die Grausamkeiten, und das ist das eigentlich Erschreckende, sogar einschläfernd vorhersehbar und stellenweise unfreiwillig komisch. Bereits Sekunden nachdem die Essensvorräte vernichtet worden sind, werden bierernst Gedanken des Kannibalismus in die Runde geworfen. Diese unvermittelte Radikalität, mit der hier die Bastionen der Menschlichkeit der Reihe nach gefällt werden, kann und sollte kein Zuschauer ernst nehmen. Hier liegt auch die größte Schwäche von Kim Ki-duks Human, Space, Time and Human, denn der Regisseur verzichtet auf jedwede Charakterentwicklung. In seinem dystopischen Kampf ist der Mensch bereits von Beginn an von Grund auf verdorben und bleibt dies auch bis zum Schluss. Es gibt keinerlei ethische Fallhöhe. Vergewaltigung, Mord, Kannibalismus, all dies scheint die Figuren vor keine moralischen Hürden zu stellen. Lediglich um eine „Rangfolge“ der Bösartigkeit entstehen zu lassen, weichen Figuren für kurze Momente von ihrem amoralischen Verhalten ab, entwickeln ein Pseudo-Gewissen – was dem Zuschauer als clevere Gesellschaftskritik verkauft werden soll. Wenn der Anführer der bestialisch agierenden Gangstertruppe dem Nichts heraus plötzlich Anstoß an den Gräueltaten des Senators nimmt, denen er zuvor noch diabolisch grinsend beigewohnt hatte, soll der Zuschauer daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass die vermeintlich ehrbaren Politiker sogar noch die größten Gangster in ihrem skrupellosen Verhalten locker in die Tasche stecken.
Kim Ki-duk inszeniert seine amoralische Farce dermaßen an jedweder ernstzunehmenden Gesellschaftskritik vorbei, dass es fast schon wieder eine Kunst ist. Auf der nachfolgenden Pressekonferenz erklärte der Regisseur, dass Human, Space, Time and Human der perfekte Film hätte werden sollen, er auf Grund eines schmalen Budgets allerdings seine Visionen herunterschrauben musste. Was an dieser Aussage nachdenklich stimmt: Der einst begnadete Filmemacher scheint mit seinem Drehbuch vollends zufrieden und ich schlage ungläubig die Hände über dem Kopf zusammen. Etwas Positives kann ich dem Film dennoch abgewinnen, denn mit Kim Ki-duks Schlachtfest ist mein persönlicher Tiefpunkt der diesjährigen Berlinale erreicht, von nun an kann es nur noch bergauf gehen.
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 1.
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 2+3.