Kritik: John Wick – Kapitel 4 (USA 2023)

– Eine Gastkritik von Paul Seidel, erstmals zu lesen am 31. März 2023 –

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There is no John out there. No happy man with a normal life. There is only John Wick: The Killer.

Die aktuellste Rückkehr Keanu Reeves als Hundefreund und Profikiller John Wick verspricht allein mit üppiger Laufzeit der bisher größte Eintrag in die seit 2014 laufende Filmreihe zu werden. Die nächste Steigerung eines Franchise, welches bereits in seinem Vorgänger die Tore für ein noch ambitionierteres Worldbuilding, größere Action Set Pieces und eine Laufzeit mit Überlänge aufstieß. John Wick: Kapitel 4 ist der vorläufige Gipfelpunkt einer handwerklich treffsicher gestarteten Reihe, die das vielversprechende Handwerk auch neun Jahre später nicht missen lässt, sich in Sachen Erzählung und Konstruktion eines eigenen filmischen Universums jedoch zusehends übersteigert.

Längst ist die Reise John Wicks nicht mehr nur auf den US-amerikanischen Boden beschränkt. Die Gangsterwelt, die das Publikum vor Jahren in New York City betrat, ist als globale Parallelgesellschaft etabliert, die sich in Sachen Einfluss und Ausmaß mit jeder neuen Fortsetzung zu übertreffen versucht. Stationen im vierten Kapitel sind, neben der japanischen Millionenstadt Osaka, die europäischen Hauptstädte Paris und Berlin oder zumindest Ausschnitte derer, die die überschaubaren Geschehnisse auf Bond-eske Ortswechsel ausdehnen. Das actiongeladene Städtehopping streift die Identitäten seiner Schauplätze und ist, ausgenommen einzelner herausragender Szenen in der französischen Hauptstadt, in seiner Ausdehnung nur wenig ertragreich.

An welchem Ort die Fäuste und Geschosse fliegen, ist ohnehin nur selten bedeutsam für die Actionsequenzen, denen das Franchise ein treues Publikum zu verdanken hat und die auch in John Wick: Kapitel 4 die Essenz der knapp dreistündigen Killerhatz ausmachen. Ob durch Kunstgalerien, künstliche Wasserfälle oder eine tanzende Clubmenge: der Schwung und Nachdruck, mit denen sich Wick und seine Verbündeten durch Reihen von schwerbewaffneten Lakaien oder Professionellen kämpfen, lässt für jede schonungslose Auseinandersetzung schlagkräftiges Actionkino erhoffen. Insbesondere im letzten Drittel, wenn sich mit einer Schießerei in Top-Down-Perspektive und dem Kreisverkehrschaos am Arc de Triomphe gleich zwei handwerkliche wie inszenatorische Höhepunkte aneinanderreihen, zündet die Formel.

Der Weg dorthin ist nicht weniger dynamisch choreographiert und gefilmt, kann die Überlänge dieser Fortsetzung aber nicht verbergen. Vielen der ausgedehnten Auseinandersetzungen fehlt es nicht an einem kohärenten und eindrücklichen visuellen Style, sondern an Prägnanz und mitunter auch an Konsequenz. Wo die Action mit Schnitt und Sounddesign in 1:1-Konfrontationen wiederholt eine spürbare Körperlichkeit betont, ist eben jene Greifbarkeit in anderen Momenten schnell verloren. Die großangelegten, oft in sich geschlossenen Actionspektakel eint das ausgereizte Abarbeiten an anonymen Kanonenfutter, das noch schneller zu Boden fällt als die leeren Worthülsen der Figuren.

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Dass John Wick: Kapitel 4 keine gesprächige Kehrtwende nehmen würde, war absehbar wie auch verzichtbar. Deutlich gemacht, dass sich Filme dieses Genres nicht auf komplexe Strukturen und Dialoge fokussieren müssen, haben Genrevertreter wie zuletzt Mad Max: Fury Road. Und doch ist Chad Stahelskis neuste Regiearbeit darum bemüht, die Welt und deren Komplexität auszuschmücken. Eine wackelige Gratwanderung zwischen gewissenhaften, ernsthaften Ausbauen der Lore mit Ritualen, Regeln und einem überraschend simpel erscheinenden Ausweg, die ewige Flucht Wicks in einem Duell zu beenden und einer selbstironischen, überzeichneten Einbindung oder Fortführung von karikaturhaften Gegenspielern und sonstigen Klischees.

Durch die tonalen Fluktuationen des Films, von kompromisslosen Faustkämpfen über einen eigenwillig ulkig in Szene gesetzten Treppenauf- und Abstieg bis zum sentimentalen Showdown im Licht des Sonnenaufgangs, wandelt Keanu Reeves, ebenso gott- wie superheldengleich, als mitgenommener Spielstein. In Kampfsequenzen gehört ihm weiterhin die größte Aufmerksamkeit, auch weil jedes gesichtslose Opfer unbedeutender kaum sein könnte. Mit der Einführung von Splitterparteien zeichnen sich Gewissenskonflikte ab, die den eigentlichen Geschehnissen jedoch nur selten etwas hinzuzufügen haben. Der nahezu ruhenden Figurenarbeit und den allmählich repetitiven Bewegungs- und Kampfabläufen steht zumindest Franchise-Neuzugang und Actionikone Donnie Yen (Ip Man) gegenüber. Sein Auftreten ist wohl die größte Konkurrenz für die in vorangegangenen Filmen unerreichte Präsenz des titelgebenden Hauptcharakters. Überhaupt auch aller anderen Figuren wie der von Bill Skarsgård dargestellte Marquis Vincent de Gramont, der in seinen Auftritten als einflussreicher Antagonist verblasst. Vage arbeitet der Film Spannungsverhältnisse zwischen einzelnen Figuren heraus, die spätestens im Finale geglättet werden, bevor sie sich überhaupt entfalten können.

Anders die Geschichte, die ihre oberflächliche Expansion vom Beginn in der jordanischen Wüste an nicht zurückhält, sich dennoch auf eine überraschungsarme Stationsarbeit verlässt. Figuren und Orte als Mittel zum Zweck, welches Möglichkeit gibt, visuelle Abwechslung zu schaffen, ganz egal, ob sie Entscheidungen der Figuren widersinnig erscheinen lassen. Filmische Zitation, Bild- und Perspektiveinfälle wie der Schatten eines Deckenventilators, der vier Killer an einem Tisch als verheißungsvolle Sense durchfährt und ein dick aufgetragener Sonnenzyklus als sinnbildlicher Rahmen demonstrieren die Spannweite der Visualität, welche in den kommenden Jahren wohl nicht nur in Film- sondern auch in Serienform um weitere Schauplätze ergänzt werden wird.

Fazit: John Wick vs. den Rest der Welt mündet in ein ausgedehntes Spektakel, welches seine Überlänge kaum verbergen kann. Blasse, hüllenhafte Figuren behaupten sich in großangelegten Auseinandersetzungen, denen es nicht an eindrücklichem Genre-Handwerk, aber hin und wieder an prägnanter Wirkung fehlt. Der wackelige Drahtseilakt, einerseits die oberflächlich ausgebaute Welt ernst zu nehmen und andererseits augenzwinkernder Einbindung schrulliger Gegenspieler, Klischees sowie das Zurückgreifen auf vereinfachte Motivationen und Auflösungen, trüben den Eindruck all jener (Handlungs-)Elemente, welche außerhalb der im flackernden Licht ausgetragenen Schusswechsel liegen. Eine Fortsetzung mit Donnie Yen als Aufmerksamkeitsgarant, in der das wachsende Regelwerk der Welt mehr Fragen aufzuwerfen scheint, als es beantwortet.

John Wick: Kapitel 4 startete am 23. März 2023 deutschlandweit im Kino und ist ab dem 15. September fürs Heimkino erhältlich*. Hat euch die Kritik gefallen? Dann unterstützt CinemaForever.net gerne, indem ihr bei der nächsten Amazon-Bestellung über den markierten Link geht.*

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