Puh, Endspurt! Die Berlinale 2018 neigt sich ihrem Ende entgegen und es wird auch langsam Zeit. Gerade in den vollgestopften Kinosälen, in denen seit nunmehr fast zehn Tagen Kritiker aller Länder gemeinsam eingesperrt sind, geht es mit der Freundlichkeit und auch der Hygiene rapide bergab. Kleines Beispiel gefällig? Gestern entstand gleich neben mir folgende Gesprächssituation:
„Könnten Sie das bitte nicht in meine Richtung schnipsen?“
„Was bitte?“
„Das, was Sie da unter Ihren Fingernägeln hervorholen. Könnten Sie das BITTE nicht in meine Richtung schnipsen? Schnipsen Sie es doch BITTE nach vorne.“
Mhmmm…lecker. Meine Sitznachbarn waren bisher glücklicherweise alle angenehm umgänglich. Und auch meine Stimmung hat sich nach meinem persönlichen Tiefpunkt der diesjährigen Berlinale, Kim Ki-duks Human, Space, Time and Human, inzwischen deutlich aufgehellt, was in erster Linie daran liegen dürfte, dass ich in den letzten Tagen einige richtig starke Filme sichten konnte.
Thomas Stubers In den Gängen, der letzte Wettbewerbsbeitrag der diesjährigen Berlinale, ist gleichzeitig auch mein bisheriger Festivalhöhepunkt. Der vierte deutsche Film im Wettbewerb ist eine einfühlsame Studie über jene, die von der Gesellschaft oft übersehen werden, ein Film über die fast unsichtbaren Arbeiter in Großmärkten und ihren vor den Blicken der Kunden verborgenen Mikrokosmos. Regisseur Thomas Stuber sucht in seinem Film die Größe im Kleinen – Bilder des erwachenden Großmarktes werden pompös mit klassischer Musik untermalt. Aus den Lautsprechern tönt Johann Strauss’ An der schönen blauen Donau und weckt sofort Erinnerungen an Stanley Kubricks Klassiker 2001: Odyssee im Weltraum. Stuber lässt den Zuschauer eine neuen Welt erkunden, jedoch geht es nicht in ferne Galaxien, er öffnet uns lediglich Türen zu verschlossenen Arealen des scheinbar Vertrauten. Die eisigen Weiten der Tiefkühlabteilung (von den Mitarbeitern scherzhaft Sibirien getauft), ein geheimes Meer (die Aquarien der Fischabteilung) oder einfach nur ein Ausflug an den Kaffeeautomaten, der zum stetigen Mittelpunkt der kleinen Welt wird, die sich der wortkarge Protagonist Christian (großartig: Franz Rogowski, der im Zusammenspiel mit Sandra Hüller wirklich brillieren kann) langsam erschließt, werden zu melancholischen Zufluchtsorten im stressigen Arbeitsalltag. Die größte Stärke von Thomas Stubers In den Gängen liegt jedoch in seiner grandiosen Figurenzeichnung. Der Regisseur dirigiert gleich ein ganzes Figurenkabinett liebevoller Außenseiter, zumeist Wendeverlierer, die in ihrem Großmarkt irgendwo in Ostdeutschland eine Ersatzfamilie in ihren Mitarbeitern gefunden haben. Dabei werden dem Zuschauer nie mehr Informationen als zwingend nötig gegeben, Konflikte bleiben unausgesprochen, Motivationen können nur erahnt werden. Doch irgendwann ist jede Schicht zu Ende, dann müssen alle zurück in die Wirklichkeit. In den Wohnungen gibt es keine Poesie, hier herrscht karge Tristesse, aus dem die Arbeiter erst am nächsten Morgen, mit Beginn der nächsten Schicht, wieder erwachen dürfen.
Das nächste Schmankerl servierte Milk-Regisseur Gus van Sant, der auch mal wieder einen Film in das Rennen um den Goldenen Bären schicken darf. Der Preis für den schrecklichsten deutschen Verleihtitel dürfte dem Biopic über den querschnittsgelähmten Cartoonisten John Callahan (Joaquin Phoenix), der für seine pechschwarzen Cartoons berüchtigt war, aber schon sicher sein, denn Don’t Worry, He Won’t Get Far On Foot wird in Deutschland unter dem Titel Don’t Worry, weglaufen geht nicht in die Kinos kommen. Klingt im deutschen Verleihtitel wie eine 08/15-Feelgood-Komödie, doch das Porträt über den eigenwilligen Cartoonisten mit der krakeligen Federführung und den unnatürlich roten Haaren, den Robin Williams als den lustigsten Mann auf vier Rädern ehrte, ist deutlich mehr als durchschnittliches Wohlfühlkino. Regisseur Gus Van Sant ist inzwischen ein alter Hase im Filmgeschäft und weiß genau, welche Schrauben er beim Publikum zu drehen hat und wie weit er diese drehen kann, ohne diese emotional zu überspannen. Fast dokumentarisch gibt Van Sant Einblick in das von Zwängen und stetigen Wiederholungen bestimmte Leben des Alkoholsüchtigen John Callahan, der erst nach seinem Unfall mit dem zeichnen begann. Immer wieder werden die unrühmlichen Momente der Sucht eingefangen. Dabei verzichtet der Regisseur darauf, das traurige Spektakel durch andere Figuren zu kommentieren, sondern lässt die Szenen in ihrer Erbärmlichkeit für sich sprechen. Nur konsequent, dass der Films den Fokus auch weniger auf den schwerwiegenden Unfall und die Rückfindung in das Leben legt, sondern den auch im Rollstuhl weiter ausgetragenen Kampf gegen den Alkohol. Ganz unten angekommen, wird als letzter Ausweg der Gang zu den Anonymen Alkoholikern angetreten. Hier kommt John unter die Fittiche des gönnerhaften AA-Mitglieds und Berufserben Donnie, verkörpert von Jonah Hill, der dem eigentlichen Hauptdarsteller ein ums andere Mal die Szenen klaut, der John bei der Umsetzung des 12-Schritte-Programms mit seinen Erfahrungen zur Seite steht. Der Kampf gegen die Droge wird gleichzeitig auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Glaubensprinzip. Das Don’t Worry, He Won’t Get Far On Foot letztlich nicht in fragwürdig-spirituelle ebenen davonwabert, ist letztlich auch dem unbequemen Hauptcharakter zu verdanken, dessen bitterböse Zeichnungen, eingestreut als Cartoon oder in animierter Form, einen geerdeten Kontrast zur geistigen Selbstfindung bieten.
Am Samstag werden dann auch endlich die Gewinner des Festivals bekannt gegeben, ich werde bis dahin noch einige Filme nachholen und euch in einem Abschlussbericht noch von den letzten Zügen der Berlinale berichten.
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 1.
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 2+3.
HIER geht es zu meinem Rückblick von Tag 4+5.