Eine Gastkritik von Michael Gasch

Als Damien Chazelle zunächst mit Whiplash (2014) und nur zwei Jahre später mit La La Land das moderne Hollywood-Kino veränderte und bei den Oscars mit letzterem mit 14 Nominierungen fast Geschichte schrieb (so viele Nominierungen erhielten bisher nur Alles über Eva sowie Titanic), waren die Erwartungen an sein neues Werk, welches Hollywood radikal von der anderen, düsteren Seite portraitieren soll, dementsprechend hoch. Im Zeitalter von Selbstbeweihräucherung à la Avatar – The Way of Water ist mit Babylon Gott sei Dank tatsächlich ein Film entstanden, der in die Geschichte eingehen wird. Dass wir das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht realisieren, ist aber keine Überraschung.
Ein geschichtsträchtiger Moment
Als das amerikanische Publikum am 25. Juni 1982 in die Kinos ging, wusste es wohl auch noch nicht so ganz, was sie mit dem Film, der an diesen Tag anlief, anfangen sollte. Ein unerwartetes dystopisches Kinoerlebnis über Replikanten mit jeder Menge philosophischen Fragen verlangte dem Zuschauer damals schon einiges ab. Die Rede ist natürlich von Blade Runner, der an den Kassen stark floppte und sich erst im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Kultfilm entwickelte. Es ist nur eines von zahlreichen Beispielen, welche uns immer wieder daran erinnern: Das gegenwärtige Publikum entscheidet nicht, ob ein Film in die Geschichte eingehen wird, die Zeit zeigt es. Da unsere Gegenwart immer kurzweiliger und schnelllebiger wird und die Resonanz bei Babylon gelinde gesagt kompliziert ausfällt, kristallisiert sich aber schon jetzt heraus, dass Damien Chazelles neueste Regiearbeit anders als alle sonstigen Neuproduktionen aus der kalifornischen Filmschmiede ist.
Auf der einen Seite gilt Babylon als Flop (Stand 02/2023) und hat nach einigen Schätzungen gerade mal die Hälfte seines Budgets in Höhe von 110 Millionen Dollar wieder eingespielt. Nicht zu vergessen, dass sich viele Menschen vor den Kopf gestoßen fühlen. Zu lang, zu wirr, zu lang, zu überdreht. Ach und zu lang! Die negativen Kritiken bilden ziemlich gut ab, in welcher Zeit wir uns befinden, wenn Leute, die nur noch zehnsekündige Clips von TikTok gewöhnt sind, bei Babylon regelrecht einknicken oder – wenn nicht Marvel auf dem Poster steht – gleich gar nicht erst das Kino aufsuchen. Doch eigentlich ist Chazelles zweites Meisterwerk wunderbar vielschichtig konzipiert.
Unterhaltung und Intelligenz
Man könnte Babylon rein als Unterhaltung abtun. An vorderster Front begeistern Margot Robbie in ihrer Possession-esken Rolle als selbsternannter Hollywood-Stern, Brad Pitt als Herzensbrecher der Stummfilmära und Diego Calva als mexikanischer Migrant Manny, der vom Durchbruch in der Filmindustrie träumt (“I just want to be part of something bigger!”). Alle drei Darbietungen sind über die Maßen extrovertiert und trashig, aber eben auch komplex sowie zu Tränen rührend. Ein Gag hier, eine Kotzszene da und jede Menge Drogen und Nacktheit runden das Programm des weniger anspruchsvollen Schauers perfekt ab. Die Erfolge von The Wolf of Wall Street und Once Upon a Time in Hollywood (ebenfalls mit Robbie und Pitt), die beide in ähnliche Kerben schlagen, kommen schließlich nicht von irgendwo.
In Hinblick auf die Maßstäbe von Babylon steht jedoch eine große Frage im Raum: Welcher große Kinofilm hat schon jemals so viel Exzess, Ausschweifungen, Spaß und gleichzeitig Abscheu vor alldem geboten? Während Damien Chazelle das ungebildetere Publikum mit so etwas bespaßen kann, wird der intellektuellere Zuschauer wiederum an ganz anderer Stelle abgeholt. Es fühlt sich schon fast nach Insiderwissen an, wenn Namen wie Eli Wallach oder Buster Keaton in einem Nebensatz fallen oder Fatty Arbuckle im Hintergrund auftaucht. Das werden aber natürlich nur die mitbekommen, die aufmerksam sind und diese Anspielungen auch verstehen. Babylon bleibt aber nicht nur in Hinsicht auf solche Meta-Spielereien (von diesen alleine lebte am Ende nämlich Once Upon a Time in Hollywood) ein hervorragendes Beispiel dafür, wie sich Unterhaltung und Intelligenz ergänzen können.

Geschichtsstunde einmal anders
Babylon zeigt ganz deutlich, wie viele Opfer – seien diese nun menschlicher oder filmischer Natur – in der Geschichte notwendig waren, um zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu gelangen. Todesfälle, aber auch Kinoflops, die zu viel oder zu wenig experimentierfreudig waren, gingen zwar nicht in die Geschichte ein, doch prägten sie diese durchaus genauso stark mit. Wer kann schon ahnen, wie das Medium Film in seiner Komplexität funktioniert? Damien Chazelle weiß es paradoxerweise ganz genau, wenn er die Geschichte des Films seit den 1920er Jahren aufrollt und keinerlei Hemmungen hat, sich damit gnadenlos ehrlich auseinanderzusetzen. Doch nicht nur der Film hat sich verändert, sondern natürlich auch das Publikum. Während in den 20ern die Kinosäle noch voll waren, die Augen bei Charlie Chaplins oder Buster Keatons Stummfilmen noch funkelnden und es unter Umständen Massenbeifall beim Einsetzen des Abspanns gab, ist es wenig überraschend, dass dies beim Übergang zum Tonfilm schon wieder ganz anders aussah. Mit der Geburtsstunde des Tonfilms mussten Regisseure eben auch erst einmal lernen, mit dieser Technologie umzugehen. Eine echte Herausforderung, die Damien Chazelle nicht nur in der „Hallo College“-Szene perfekt akzentuiert in die Höhe treibt.
Schon jetzt der Film des Jahrzehnts
Ignoriert man die letzten ganz großen Filme wie Matrix oder die Die Herr der Ringe–Filme, ist es vermutlich keine Übertreibung zu sagen, dass keiner von uns weiß, was filmische Experimentierfreudigkeit wirklich bedeutet. Wann hat man schon zuletzt einen Film gesehen, der jegliche Konventionen wie hauchdünnes Glas durchbricht? Und selbst wenn – es ist ein schmaler Grat, wenn sich Filmemacher genau dies auf die Stirn schreiben und der ursprüngliche Grundgedanke, mag dieser noch so unkonventionell sein, wie ein Kartenhaus in sich einstürzt. Babylon zeigt damit auch zwischen den Zeilen, was einen Film auszeichnet. Es ist das weitreichende Denken, das Chazelles Werke so außergewöhnlich machen. Während La La Land sich am Ende noch einmal neu erfindet und uns nicht nur eine antiromantische Vorstellung, sondern auch eine charmante Antithese zum Old School Hollywood zeigt, sieht es bei Babylon nicht wesentlich anders aus. Dies ist zwar bei Weitem nicht so charmant in Szene gesetzt, dafür aber umso radikaler. Lasst uns also ganz fair sein: Fühlen sich die ersten 160 Minuten in Hinblick auf die letzten zwanzig Minuten erzählerisch etwas irrelevant an? Natürlich! Ist es aber jemals Chazelles Anspruch gewesen, uns einen charmanten und klassischen Film vorzusetzen? Die Antwort erübrigt sich.

Durchdachte Erkenntnisse
Während Manny sich an einer Stelle eingestehen muss, ein Monster mit heraufbeschworen zu haben, in dem purer Rassismus innewohnt, so klingt beim Trompetenspiel von Sidney (nur einer von vielen brillant geschriebenen Nebenfiguren) wiederum die immanente Traurigkeit durch. Die Erkenntnis für uns in den Kinosälen ist eindeutig: Hollywood ist gleichermaßen Ort der Träume und des Schmerzes. Während der Zuschauer bei dieser Trivialität noch kurz aufatmen kann, so ist Damien Chazelle jedoch noch nicht fertig, setzt er jetzt zum entscheidenden Schlag an, wenn Manny ein letztes Mal ins Kino geht. Es ist nun 1952, die Zeit des Hays-Codes und eine völlig andere Welt. Es sind nur wenige Besucher im Saal und Manny denkt im ersten Augenblick, dass das Kino jeglichen Zauber verloren hat.
Während er dasitzt und Tränen vergießt, fährt die Kamera weiter und zeigt uns nunmehr funkelnde Augen der nächsten Generation. Wir sind wieder am Anfang des Textes und plötzlich kommt die grandiose Einsicht. Es sind so viele Filme seit Mannys Zeit ins Land gegangen. Unterirdisch schlechte Filme, rassistische Filme und viele weitere Opfer, die filmgeschichtlich aber unbedingt nötig waren. Das herausragende Konzentrat, welches übrig bleibt, zeigt Manny aber auch uns: Bei all den Tränen um längst vergangene Tage und geschichtsträchtige Produktionen ist das nächste filmische Meisterwerk wie Singin’ in the Rain nur einen Atemzug entfernt. Was ist schon ein Jahrzehnt in filmischen Dimensionen?

Das beste Ende der modernen Filmgeschichte
Noch immer ist Chazelle nicht am Ende, führt er uns in den restlichen zehn Minuten noch das eindrucksvollste Ende der letzten Jahre vor. Themen wie Vergänglichkeit und Traurigkeit werden schlussendlich im Keim erstickt, da die darauffolgende Montage-Szene alle Sinne überfordert und kaum in Worte zu fassen ist. „Ich wollte immer Teil von etwas sein, das bleibt“ heißt es nun und erst jetzt kristallisiert sich Chazelles Intention hinter Babylon heraus. Der Anspruch, einen neuen Singin’ in the Rain zu kreieren, geht vollends auf, da an dem Punkt die Narrative durchbrochen wird. Es folgen hundert Jahre Filmgeschichte mit Stumm- und Farbfilm, Surrealismus, Epos, Film noir, Nouvelle Vague, New Hollywood, CGI-Revolution und sonstigem Innovationskino auf zwei Minuten verdichtet. Bei dieser gewaltigen Wucht, die über ein Menschenleben hinausgeht, fühlt man sich auf einmal ganz klein.
Fazit: Als Romantiker und absoluter Fan von La La Land ging ich nach der ersten Sichtung erschrocken aus dem Kino. Wurde gerade Geschichte geschrieben? Ich vermochte es nicht zu sagen. Erst nach zwei weiteren Kinovorstellungen kam die verblüffte Erkenntnis: In der Tat! Filmgenie Damien Chazelle vereint alles, was wir im Kino viel zu selten erleben: Liebe und Leidenschaft, doch auch die Fähigkeit, sich mit diesen Themen ambivalent auseinanderzusetzen. Während obsolete Hollywoodikonen à la James Cameron faul dahin vegetieren und sich auf ihren revolutionären Filmen ausruhen (Avatar – The Way of Water ist das beste Beispiel), ist Babylon das herausragende Konzentrat der 2020er. Dass dies bisher weder vom Publikum, noch von Kritiken oder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences bisher vollends gewürdigt wird, zeigt einmal mehr, dass wir uns im falschen Universum befinden. Auch wenn die Umstände nicht perfekt sind, ist es immer noch schön, den Enkelkindern von diesem unvergesslichen historischen Moment erzählen zu können, als Babylon in den Kinos Premiere hatte.
★★★★★★★★
Ein Meisterwerk
Babylon startete am 19. Januar 2023 deutschlandweit im Kino. Zudem ist der Film bereits ab dem 6. April 2023 fürs Heimkino* erhältlich. Hier geht’s zum Trailer.
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