Kritik zu „Frankenstein“: Guillermo del Toros Netflix-Verfilmung

Kritik von Michael Gasch – erstmals zu lesen am 30. August 2025, gesehen im Rahmen der 82. Filmfestspiele von Venedig 2025.

Neuverfilmung von Mary Shelleys Literaturklassiker: Frankenstein von Guillermo del Toro

Als ein Symbol über Menschenversuche und Kontrollverlust begleiten Frankenstein und die von ihm erschaffene Kreatur schon gefühlt seit Ewigkeiten die Welt – immerhin erschien Mary Shelleys Literaturklassiker bereits vor 207 Jahren. 1910 entstand die erste gleichnamige Kurzverfilmung – der erste Versuch, den Stoff erzählerisch anzupassen und stilistisch zu gestalten. 1931 folgte James Whales erste große Kinoversion, die sich im kollektiven Bewusstsein fest verankerte. Noch nachhaltiger wirkte jedoch die Fortsetzung vier Jahre später, ebenfalls unter seiner Regie: Frankensteins Braut.

Seine beiden Filme waren ausgereifter in der Ästhetik, komplexer in der Narrative – doch ein gutes Stück von der Originalvorlage entfernt. Auch im modernen Kino hinterlässt Mary Shelleys Schauergeschichte einen weitreichenden Einfluss, der sich zuletzt etwa in Yorgos Lanthimos’ Poor Things manifestierte. Nun griff Guillermo del Toro den Stoff auf und präsentierte auf den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig seine eigene Interpretation des längst zeitlosen Klassikers. Der nachfolgenden Kritik muss dabei ein kleiner Exkurs in die Geschichte vorangehen. Eben jenes Wissen gibt Aufschluss: Über filmische Lesarten, über den Zeitgeist in der Welt, über das Verhältnis zwischen großer Literatur und dessen Adaptionen im Kino.

Begriffe wie Einsamkeit, Traurigkeit, Selbstmitleid aber auch Erkenntnisgewinn – zusammenfassend die Ontogenese der erschaffenen Kreatur – liegen der Romanvorlage dabei zugrunde, allesamt Begriffe aus der Psychologie. Ein zentrales Motiv geht aus eben jener Psychologisierung hervor: Es handelt sich um keine starre, gegebene Bösartigkeit, vielmehr erzählt der Stoff vom Menschsein und dem Verwehrtwerden dessen, womit die Kreatur konfrontiert wird. Es sagt da beispielsweise: „Ich war gütig und gut. Nur das Elend ließ mich böse werden. […] Ich bin bösartig, weil ich unglücklich bin.“ Weiterhin – und das wird viele Veganer heutzutage vermutlich überraschen: „Meine Nahrung ist nicht die des Menschen; ich vertilge nicht das Lamm und das Zicklein, um meinen Appetit zu stillen; Eicheln und Beeren bieten mir genügend Nahrung […] Das Bild, das ich präsentiere, ist friedlich und menschlich.“

Beim Eintauchen in die Tiefen des Frankenstein-Stoffes zeichnet sich bald ab: Es geht um weit mehr als einfache Gut-gegen-Böse-Schemata. Vielmehr erweist sich die Geschichte als höchst vielschichtig, wie auch die Kultur- und Geisteswissenschaften zeigen – zahlreiche Publikationen widmeten sich sowohl der literarischen als auch psychologischen Perspektive. 64.000 Ergebnisse auf Google Scholar bei den Suchbegriffen “Frankenstein psychology” ist nur eine Möglichkeit, dies zu belegen.

Das Kino hat diesen Umstand aber nicht immer begünstigt, im Gegenteil. Ein Diskurs über das Verhältnis zwischen Romanvorlage (dem Wort) und filmischer Adaption (dem Bild) drängt sich im Falle von Frankenstein förmlich auf. Immerhin ist schon lange bekannt, dass das Bild stärker als das Wort wirkt. Nicht nur konnte mit diversen Studien belegt werden, dass Emotionen bei der visuellen Rezeption höher ausschlagen, ebenso bleiben Bilder deutlich besser im Gedächtnis haften als Texte. Frankensteins Schöpfung ist dafür wohl ein treffendes Beispiel: Sein Bild ist deutlich im Kopf, von der Psychologie hinter der Fratze lässt sich das vermutlich nicht sagen.

„Only monsters play god.“

Über die Jahrzehnte entstanden nun die unterschiedlichsten Filme über Frankenstein. Einige Werke sind künstlerisch anspruchsvoll, andere experimentell; manche versuchen ein Psychogramm zu zeichnen, während wiederum andere spielerisch oder ganz explizit an den Stoff herantreten. Künstlerische Freiheit eben. In vielen Fällen wird jedoch ein Schauermärchen daraus gemacht, wie auch bei der bekanntesten Adaption von 1931. Doch ist das in Hinblick auf die simplen Gut-Böse-Schemata und der schnell beschlossenen Ausmerzung des Friedensstörers dem Stoff gerecht? Wobei wir nun bei Guillermo del Toros Adaption angekommen sind. Wird sein Frankenstein dem Stoff gerecht?

Del Toro selbst bezeichnet den Roman als eines der bedeutendsten Bücher in seinem Leben, und das spiegelt sich deutlich in seiner neusten Regiearbeit wider. Noch nie wurde so tief die Kreatur ergründet, selten gab es eine derart ausgeglichene Präsenz des Schöpfers und der Schöpfung. Das Werk umfasst damit viel Vorangegangenes aus 200 Jahren Kunstgeschichte: Mythosergründung, Schöpfungsgeschichte und Körperhorror; nicht zuletzt romantische, gotische als auch naturalistische Ästhetik. Das heißt jedoch nicht, dass da kein Platz für das Moderne wäre. Del Toros Frankenstein bietet ebenfalls intensives Kino, bei dem Explosionen mit fast 100 Dezibel den gesamten Körper erschüttern. Zudem enthält er eine Origin-Story, die fast schon an Marvel erinnert. Ob die Fähigkeit der Kreatur, Wunden blitzschnell zu regenerieren, zu sehr an Wolverine angelehnt ist, sei den Autoren anderer Kritiken überlassen.

Mit viel Liebe zum Detail erschafft del Toro eine Welt, die von Selbstreferenzialität geprägt ist. In der neuen Dokumentation Sangre del Toro (ebenfalls Weltpremiere in Venedig) erfahren wir, dass er schon sein ganzes Leben unter düsteren, unheilvollen Träumen leidet. Auch Frankenstein wird von diesen heimgesucht, die fortan die Geschichte beflügeln. Und wie könnte es auch anders sein, knüpft sein Film auch an seine vorherigen Werke an, wenn er Fantasie- und Realwelt verschmelzen lässt wie etwa in Pans Labyrinth oder The Shape of Water.

Mal bewegt sich die Erzählung im historischen Herrenhaus; mal im gotischen Turm mit blutverschmierten Böden. Mal begegnet das kreierte Wesen der drängenden Realität einer von Fremdenhass geprägten Gesellschaft; mal der stillen, romantisch ästhetisieren Natur. Die Kontemplation, die hier entfaltet wird, erlaubt einen poetischen, philosophischen und kulturanalytischen Zugang zugleich: Kein Ort ist für diese Kreatur der Richtige.

Ambivalenz durchzieht Del Toros Werk – und macht es zur mit Abstand interessantesten Netflix-Produktion des Jahres. Die Schöpfung ist mächtig, monströs, reaktiv und zerbrechlich – ganz im Geiste der Vorlage. Eine kollektive Mentalisierung erscheint zumindest im Bereich des Möglichen, nach dieser Frankenstein-Adaption könnte sich das vorherrschende Bild in den Köpfen wandeln. Nicht länger steht die Fratze für das reine Böse, sondern wird nun greifbarer, voller Geheimnisse, Schmerz und stiller Kraft. Del Toro ist von ihr zutiefst fasziniert – und wahrscheinlich werden auch die Zuschauer, die bereit sind, über den Tellerrand und starre Feindbilder hinauszusehen, diese Faszination teilen.

Kinostart: 23. Oktober 2025
Netflix-Start: 7. November 2025
Regie: Guillermo del Toro
Darsteller:
u.a. mit Oscar Isaac und Jacob Elordi
FSK-Freigabe: ab 16
Verleih: Netflix
Laufzeit: 2 St. 29 Min.

★★★★★★☆☆

 

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